Verborgener Hunger

„Verborgener Hunger ist auch in reichen Staaten zu finden"
Prof. Dr. med. Hans Konrad Biesalski im Interview

Seit über 30 Jahren forscht und kämpft der Ernährungsmediziner Prof. Dr. med. Hans Konrad Biesalski gegen den „verborgenen Hunger“, den Mangel an Mikronährstoffen in der Ernährung. Verstärkt breitet sich dieser Teufelskreis auch in reichen Ländern Europas wie Deutschland aus. Gegenüber Convivio mundi berichtet er über die Folgen für die körperliche und kognitive Entwicklung eines Kindes und fordert Entscheidungen von der Politik: „Für 4€/Tag lässt sich ein Kind nicht gesund ernähren! Der wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft hat in seinem Gutachten daher gefordert, dass Kita und Schulverpflegung nach den Qualitätskriterien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für alle Kinder kostenlos sein sollte. […] Das hat sich während der Coronakrise ganz besonders gezeigt. Die Kinder sind nicht nur durch psycho-soziale Probleme beeinträchtigt, sondern auch durch eine zunehmende Mangelernährung!“

Prof. Dr. med. Hans Konrad Biesalski

Herr Biesalski, nach neuesten Angaben der Welthungerhilfe hungern weltweit immer noch rund 811 Millionen Menschen. 41 Millionen stünden kurz vor einer Hungersnot. Unfassbar, hinter diesen Zahlen stehen vor allem Kinder! Doch wenn ich Ihren jahrelangen Kampf gegen den „verborgenen Hunger“, also den Mangel an Mikronährstoffen in der Ernährung, richtig verstehe, schätzen Sie die Lage noch katastrophaler ein? Oder wird diese Form von Mangelernährung inzwischen in den statistischen Erhebungen berücksichtigt?

Die Daten hierzu sind oft nicht vollständig und teilweise auch schwer zu erfassen. Wir konnten in verschiedenen, inzwischen publizierten Studien mit einem von uns entwickelten Programm in afrikanischen und asiatischen Studien zeigen, dass solche Defizite oft übersehen werden, da hierzu das Lebensmittelmuster erfasst und bewertet werden muss. Verborgener Hunger oder analog Ernährungsunsicherheit ist auch in reichen Staaten zu finden, hier aber weniger untersucht.


Sie beklagen vor allem weltweit Defizite an essenziellen Mikronährstoffen wie Vitamin A und D, Folsäure, Eisen, Zink und Jod. Woran ist diese Unterversorgung zu erkennen? Welche gravierenden Folgen hat eine solche Mangelversorgung z.B. für die körperliche und kognitive Entwicklung von Kindern?

Besonders kritisch ist die Zeit im 1000-Tage-Fenster: die Zeit von der Konzeption bis zum Ende des zweiten Lebensjahres des Kindes. Unzureichende Versorgung mit Jod und Eisen führt zu Entwicklungsstörungen des Gehirns, die zu lebenslangen kognitiven Einschränkungen führen können. Zink-Defizite werden für das gestörte Längenwachstum der Kinder verantwortlich gemacht. Eine Folsäure-Unterversorgung in der Schwangerschaft führt zu Entwicklungsstörungen (Neuralrohrdefekte), und die vor allem in armen Ländern oft zu findenden Defizite an Vitamin A und D führen in den ersten Lebensjahren zu gesteigertem Infektionsrisiko, besonders der Atemwege und vor allem zu einer gesteigerten Mortalität bei Kindern unter 5 Jahren.


Immer wieder unterstreichen Sie die Bedeutung des sogenannten 1000-Tage-Fensters für die Entwicklung des Kindes. Könnten Sie das genauer erklären? Warum ist gerade dieses Zeit-Fenster so wichtig?

Im 1000-Tage-Fenster werden wichtige Weichen für die körperliche und kognitive Entwicklung gestellt. Das Gehirn des Neugeborenen wächst in den ersten beiden Jahren mit hoher Geschwindigkeit und braucht daher nicht nur ausreichend Energie, sondern vor allem ausreichend Mikronährstoffe, um dieses Wachstum zu ermöglichen. Kommen Infektionskrankheiten dazu, so wird die Situation noch kritischer, da das Immunsystem ebenfalls einen hohen Mikronährstoffbedarf hat. Ein besonderer Effekt einer frühkindlichen Mangelernährung ist das Stunting. D.h., die Kinder sind für ihr Alter zu klein. Diese Wachstumsverzögerung lässt sich nach dem 5. Lebensjahr nicht mehr aufholen. Die Kinder sind damit ihr Leben lang körperlich benachteiligt, wenn es z.B. um den Beruf und die späteren Möglichkeiten zum Geld verdienen geht. Es kann nicht sein, dass in einzelnen Ländern Afrikas und Asiens bis zu 50% der Kinder ein Stunting aufweisen.

Ist Stunting auch schon in Deutschland festgestellt worden?

Tatsächlich gibt es eine Studie aus Brandenburg, die bei Kindern aus armen Verhältnissen beschreibt, dass diese Kinder gegen jeden Trend kleiner werden. Sind drei oder mehr Kinder in einer Familie, so ist die Differenz zum altersentsprechenden Normalwert noch ausgeprägter. Die beschriebene Differenz ist zwar noch nicht als Stunting zu bewerten, gibt allerdings einen deutlichen Hinweis darauf, dass die Ernährung dieser Kinder nicht adäquat war.


Können mangelernährte Kinder diesen Prozess durch eine ausgewogene Ernährung später wieder aufholen? Oder ist die Chance gar nicht gegeben?

Die kognitiven Einschränkungen lassen sich, wenn frühzeitig eingegriffen wird aufhalten. Ob das nach der vollständigen Reifung des Gehirns (nach der Pubertät) noch geht, ist allerdings fraglich. Beim Stunting ist die Zeit zum Eingreifen kurz und nach dem 5. Lebensjahr oft ohne Effekt.


Wird dieses Wissen um die Langzeitfolgen des „verborgenen Hungers“ in den internationalen politischen Gremien und Organisationen z.B. der FAO geteilt und umgesetzt? Orientieren sich Ernährungshilfsprogramme an diesen Erkenntnissen? Oder setzt man auch da nach wie vor nur auf stärkehaltige, weil natürlich preiswertere Nahrungsmittel?

Es beginnt sich etwas zu ändern. So hat die FAO/WHO in ihrem Bericht von 2013 zur eigenen Überraschung festgestellt, dass Stunting mit der Menge an verzehrten stärkehaltigen Produkten und nicht mit geringer Energiezufuhr (als häufigstem gebrauchten Indikator für Mangelernährung) zusammenhängt. D.h. je größer der Anteil stärkehaltiger Produkte an der täglichen Energieaufnahme ist, desto mehr Kinder weisen ein Stunting auf.
Der Hidden Hunger wird inzwischen zumindest erwähnt und Zahlen über Mikronährstoffdefizite erfasst. Nicht zuletzt haben die Hidden Hunger Kongresse – seit 2013 finden sie alle zwei Jahre in Stuttgart Hohenheim statt – dazu beigetragen, dass dieses Thema ernster genommen wird. (Der nächste Kongress findet vom 14.9.–16.9.2022 in Stuttgart Hohenheim statt.) Nach wie vor wird jedoch immer wieder darauf hingewiesen, dass der Hunger am besten mit gesteigerten Erträgen für Reis, Mais, Weizen und andere stärkehaltige Lebensmittel zu bekämpfen ist und das genug für alle da sei (Klimawandel unberücksichtigt). Zweifellos ist genug „Energie“ da, um den Hunger zu bekämpfen, aber keinesfalls genug Lebensmittel, um die Menschen und hier vor allem Frauen und Kinder ausreichend zu ernähren.


Betroffen von Ernährungsarmut sind ja nicht nur die unterentwickelten Länder. Dieser Teufelskreis breitet sich auch verstärkt in Europa und Deutschland aus, da zu einer ausgewogenen, mikronährstoffreichen Ernährung, wie Sie es fordern, vor allem frisches Obst und Gemüse gehören. Nun sehen wir gerade bei Obst und Gemüse eine horrende Preissteigerung. Verena Bentele, die Präsidentin des Sozialverbands VdK, erklärte vor kurzem in einem Interview: „Obst und Gemüse werden für Geringverdiener und Menschen in Grundsicherung durch die Preissteigerungen endgültig zum Luxusgut, das sie sich nicht mehr leisten können.“ Können da noch gutgemeinte und geförderte Elternkurse zum gesunden Kochen vom Kaufen der Fertigprodukte und Konserven abhalten, wenn das Geld für den Einkauf fehlt? Muss hier nicht ein Umdenken stattfinden?

In der Tat muss hier ein Umdenken stattfinden. Solange als Gegenargument für eine bessere finanzielle Ausstattung für Ernährung vor allem bei Kindern mantra-artig darauf hingewiesen wird, dass es ausreiche, wenn man richtig kochen kann und daher solche Diskussionen (vor allem in der Politik – siehe Anträge der Linken aus 2020) immer damit abgeschmettert werden, dass dies nur in Verbindung mit entsprechenden „edukatorischen“ Maßnahmen ginge, wird sich nichts ändern. Für 4€/Tag lässt sich ein Kind nicht gesund ernähren! Der wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft hat in seinem Gutachten daher gefordert, dass Kita und Schulverpflegung nach den Qualitätskriterien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für alle Kinder kostenlos sein sollte. Die Skandinavischen Länder machen uns dies vor und zeigen dabei auch, dass diese Investition sich lohnt, da die sinkenden Ausgaben im Gesundheitssystem für Kinder dieser Altersgruppen den finanziellen Einsatz mehr als ausgleichen. Kochkurse für Eltern sind sicherlich eine gute Maßnahme, aber keine sine qua non Bedingung, wenn es um die Finanzierbarkeit der Ernährung geht. Das hat sich während der Coronakrise ganz besonders gezeigt. Die Kinder sind nicht nur durch psycho-soziale Probleme beeinträchtigt, sondern auch durch eine zunehmende Mangelernährung!

In Ihrem Artikel „Ernährungsarmut bei Kindern – Ursachen, Folgen, COVID-19“ beschreiben Sie sehr detailliert den Zusammenhang zwischen Armut, dem sogenannten sozioökonomischen Status einer Familie und Ernährungsarmut – auch in Deutschland. Sie beklagen u.a., dass während des Lockdowns, als die Schulen geschlossen waren und Homeschooling angesagt war, keine Alternative zu den Schulspeisungen angeboten wurde. Während in den USA gezielt Programme aufgelegt wurden, um der Unterversorgung zu begegnen. Sie erwähnen z.B., dass die amerikanische Regierung rechtzeitig Mittel zur Verfügung gestellt hat, um ca. 12 Millionen Kinder aus armen Verhältnissen, die darauf angewiesen sind, mit einer warmen Mahlzeit während der Pandemie zu versorgen. Wären solche gezielten Programme nicht auch auf Deutschland übertragbar?

Mit entsprechendem politischem Willen und angepasst an die in Deutschland andere schulische Infrastruktur wäre das sicherlich möglich gewesen. Im Gegensatz zu verschiedenen Europäischen Staaten ist das Thema Schulspeisung in Deutschland nicht angesprochen worden!


Sie heben in Deutschland besonders das „Pirmasenser Modell“ hervor? Was hat man in Pirmasens während des Lockdowns besser gemacht?

Im Primasenser Modell konnten wir die Caritas gewinnen über ihre Sozialstationen warme Mahlzeiten zum Abholen anzubieten. Diese wurden von einem Caterer geliefert. In einer nahe gelegenen Schule wurden die Eltern auf diese Möglichkeit hingewiesen. Dank großzügiger Unterstützung durch den Lions Club sowie Rotary und der Stadt Pirmasens konnten wir für einen Zeitraum von sechs Wochen zunächst einmal 150 Mahlzeiten finanzieren. Durch die Änderung der Pandemieentwicklung war die Laufzeit des Projektes verkürzt. Die verbleibenden Mittel werden an der Schule jetzt dazu eingesetzt, mit den Kindern in regelmäßigen Abständen ein gesundes Frühstück gemeinsam zu zubereiten. Grundsätzlich hat das Modell gezeigt, dass es geht und auch lokal mit entsprechendem Willen und etwas Logistik umgesetzt werden kann.


Was schlagen Sie grundsätzlich als notwendigste Maßnahmen vor, um auch in Deutschland dem „verborgenen Hunger“ die Stirn zu bieten?

Das, was der wissenschaftliche Beirat dringend empfohlen hat: Daten, Daten, Daten. Das Problem wird konsequent ignoriert, obwohl die regelmäßig erhobenen Daten aus den USA und anderen Ländern deutlich machen, dass es für Menschen in Armut und hier nicht nur für Kinder, sondern zunehmend auch für Senioren ein Problem ist. Bei Senioren hat der verborgene Hunger nicht nur Folgen für das Immunsystem, sondern auch stark für die psychische Stimmung.


Finden Sie Gehör für Ihre Vorschläge in der Gesellschaft und Politik? Sind wir entsprechend sensibilisiert und handlungsbereit?

Der Abschnitt Ernährungsarmut im Gutachten des Beirates, den ich gemeinsam mit Frau Arens-Azevedo (ehem. Präsidentin der DGE) geschrieben habe, ist weder von der Politik, noch von den Medien wahrgenommen worden. Das Problem wird den Betroffenen zugeschoben und in der Diskussion um die Folgen der Armut konsequent ausgeklammert.


Das muss sich offensichtlich ändern! Herr Biesalski, wir danken Ihnen.

Vita: Prof. Dr. med. Hans Konrad Biesalski


Prof. (emeritiert) Dr. med. Hans Konrad Biesalski war Leiter des Instituts für Biologische Chemie und Ernährung (1994–2016) sowie Direktor des Food Security Center (FSC) an der Universität Hohenheim in Stuttgart (2013–2017).
Er verfügt über mehr als 30 Jahre Erfahrung in der Erforschung von Retinoiden und ihrer Wirkung auf Zellwachstum und -differenzierung, Vitamin A und die menschliche Gesundheit, insbesondere Lungenkrankheiten. Zunächst konzentrierte sich seine Forschungstätigkeit auf Antioxidantien und Vitamine in der Grundlagen- und angewandten Forschung zu reaktiven Sauerstoffspezies und deren Rolle in der menschlichen Ernährung. Seit 2010 befasst er sich mit der Lebensmittelqualität als Indikator für eine angemessene und gesunde Ernährung und mit Mikronährstoffen in der menschlichen Gesundheit und bei Krankheiten. Als Principle Investigator von Ernährungsstudien in Entwicklungsländern untersuchte er die Auswirkungen von DDT auf den Vitamin-A-Status in Flüchtlingslagern, die Ernährungs- und Lebensmittelqualität einschließlich RUF (ready-to-use food) in Entwicklungsländern (Thailand, Indonesien, Vietnam, Äthiopien, Kenia, Samoa).
Darüber hinaus hat er IT-basierte Programme mit spezifischen Scoring-Systemen entwickelt, um Mangelernährung und Mikronährstoffzufuhr in verschiedenen Gruppen (Kinder, schwangere Frauen und ältere Menschen, Krebspatienten) zu erkennen; die Programme werden in verschiedenen Studien zur Bewertung des individuellen Ernährungsstatus und zur Kontrolle von Interventionsstudien eingesetzt.
Er ist Herausgeber der Zeitschrift „Nutrition and metabolism in cancer" sowie europäischer Herausgeber von „Nutrition and Metabolism", Autor und Herausgeber zahlreicher Lehrbücher zu den Themen Ernährungsmedizin, Ernährungsphysiologie, klinische Ernährung, Vitamine und Alterung. Seit 2013 organisiert und leitet er den Internationalen „Hidden Hunger Congress“ in Stuttgart. Dieser Kongress wird 2022 zum 5. Mal stattfinden.
Er ist Mitglied verschiedener internationaler Gesellschaften und Beratungsgruppen, z.B. der WHO/FAO Expert Group Application of Nanotechnologies in the Food and Agriculture Sectors (Potential Food Safety Implications), der FAO/WHO BOND Initiative (Biomarker of Nutritional Deficiencies) und des High-Level Panel of Expert Group of the Global Forum on Food Security and Nutrition.
Der Ernährungsmediziner wurde mit zahlreichen Preisen und Ehrungen bedacht. Im Jahr 2007 wurde er zum Stipendiaten des Wissenschaftskollegs, Berlin, gewählt. 2017 erhielt er für sein Engagement gegen Hunger und ländliche Armut den renommierten Justus-von-Liebig-Preis für Welternährung, im gleichen Jahr den Preis der Deutschen Gesellschaft für Vitaminforschung für sein Lebenswerk und 2019 die Konrad-Lang-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin.


Die Fragen stellte Renate Müller De Paoli.
Herr Biesalski beantwortete diese schriftlich am 28. Oktober 2021.

Prof. Dr. med. Hans Konrad Biesalski im Interview

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