Interview mit Adam Jaromir

„Stellvertretend für all die tapferen Erzieher, deren Namen wir heute nicht einmal kennen.“

„Stellvertretend für all die tapferen Erzieher, deren Namen wir heute nicht einmal kennen.“ wirft Autor und Verleger Adam Jaromir in dem Buch „Fräulein Esthers letzte Vorstellung“ das Scheinwerferlicht auf die Arbeit von Fräulein Esther, eine Mitarbeiterin des polnischen Arztes und Pädagogen Janusz Korczak, im jüdischen Waisenhaus Dom Sierot. In der Unmenschlichkeit des Warschauer Ghettos begann Esther im Mai 1942 mit den Kindern Tagores Theaterstück „Postamt“ einzustudieren. Drei Wochen nach der Aufführung wurden Kinder, Korczak und Mitarbeiter von der SS im August 1942 nach Treblinka transportiert und ermordet. Im Gespräch mit Renate Müller De Paoli spricht Adam Jaromir über sein „mit Abstand wichtigstes Buch“.

Adam Jaromir
Adam Jaromir (Foto: Copyright Ali Ghandtschi )


Herr Jaromir, 2011 hat der Gimpel Verlag von Ihnen aus dem Polnischen übersetzt „Blumkas Tagebuch. Vom Leben in Janusz Korczaks Waisenhaus“ herausgebracht. 2013 haben Sie als Autor mit „Fräulein Esthers letzte Vorstellung“ eine weitere Veröffentlichung über den großen polnischen Pädagogen Janusz Korczak vorgelegt. Was verbindet Sie mit Korczak?


Wie jedes polnische Kind las ich in der Grundschule Korczaks Hänschen den Ersten. Über dessen Autor erfuhr ich damals wenig. Ich kann mich nur erinnern, dass unsere Lehrerin, sobald sie auf Korczak zu sprechen kam, seltsam feierlich wurde, um mit dem Fortschreiten ihrer Erzählung immer leiser zu werden. Sie druckste herum, von Waisenkindern, vom Krieg, vom Tod … Dass es sich bei Dom Sierot um ein jüdisches Waisenhaus handelte und dass sie deswegen ins Ghetto mussten – erwähnte sie „natürlich“ mit keinem Wort. Doch ich spürte damals, dass uns hier etwas verschwiegen wurde, und machte mich – sobald ich uneingeschränkten Zugang zu der Bücherei hatte, auf die Suche nach der Wahrheit … Viele Jahre später stolperte ich über Korczaks Ghetto-Tagebuch. Nachdem ich diesen bewegenden Text gelesen hatte, war ich der festen Überzeugung, dass seine Geschichte es verdient, neu erzählt zu werden, und zwar als Bilderbuch.


Wie arbeiten Sie als Autor? Wie hat sich die Idee zu „Fräulein Esthers letzte Vorstellung“ – inzwischen nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2014 – bei Ihnen entwickelt, insbesondere da Sie Kinder ab 12 Jahren als potentielle Leser im Blick haben?


Um ehrlich zu sein, habe ich, solange ich an einem Buch arbeite, nur die Geschichte im Blick. Die Frage, für wen das Buch interessant sein könnte, stelle ich mir erst hinterher. Im Übrigen halte ich nichts von der Einteilung in Altersgruppen. Eine höchst unzuverlässige Orientierungshilfe, die den Erziehungsberechtigten keineswegs von der Verpflichtung entbindet, sich das Buch genauer anzuschauen und die Lektüre gegebenenfalls zu begleiten. Was den Arbeitsprozess selbst betrifft, so entwickle ich meine Geschichten aus zwei Richtungen. Einmal ist es ein Bild, das zuerst da ist und zu dem ich einen Text entwickle, ein anderes Mal – umgekehrt. Auf diese Weise entstehen mehr oder weniger lose zusammenhängende Sequenzen. Eine Unordnung, die im nächsten Schritt unter Kontrolle gebracht werden muss. Bei Fräulein Esthers letzte Vorstellung war es allerdings mein Ziel, einen mosaikartigen Text zu erschaffen, der den Leser vor die Aufgabe stellt, die Lücken selber aufzufüllen …

In berührender Weise – unterstützt durch die Illustrationen von Gabriela Cichowska – nehmen Sie den Leser an die Hand und führen ihn in das Grauen des Warschauer Ghettos. Welche Wirkung erhoffen Sie sich bei Ihren jungen Lesern? Was wollen Sie erreichen?


Mit Fräulein Esthers letzte Vorstellung wollte ich an all die Menschen erinnern, die in dieser düsteren Zeit vor die Aufgabe gestellt wurden, für andere zu sorgen und ihnen Hoffnung auf ein besseres Morgen zu geben. Bei meiner Recherche erfuhr ich, dass es im Warschauer Ghetto an die dreißig Waisenhäuser gab. Wir können also davon ausgehen, dass die von mir beschriebene Situation keineswegs singulär war. Daher habe ich mich entschieden, Fräulein Esther, eine der Mitarbeiterinnen Korczaks, in den Fokus zu rücken, stellvertretend für all die tapferen Erzieher, deren Namen wir heute nicht einmal kennen.

75 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges scheint der Friede bedrohter denn je, Krisen- und Kriegsherde, Flucht und Vertreibung von Menschen sich grenzenlos auszubreiten. Nun ist „Fräulein Esthers letzte Vorstellung“ mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet worden. Was bedeutet diese Auszeichnung für Sie als Autor und Verleger?

Diese Auszeichnung empfinde ich als Ausdruck großer Anerkennung. Nicht nur meiner eigenen Leistung. „Fräulein Esther“ ist nämlich das Werk eines mindestens dreiköpfigen Teams. Mindestens, denn neben Gabriela Cichowska (Illustrationen) und Dorota Nowacka (grafische Gestaltung) waren noch andere an der Entstehung beteiligt. Photo editing, Druck, Bindung … überall dort war eine herausragende Leistung gefordert, damit ein solches Buch entsteht. Als Kleinverleger beglückt es mich zu sehen, dass unser Buch durch eine solche Auszeichnung mediale Unterstützung erfährt, die angesichts des nicht vorhandenen Werbeetats nötig ist, damit das Publikum von seiner Existenz überhaupt erfährt.


Der Gimpel Verlag, den Sie gemeinsam mit Luca Emanueli leiten, besteht erst seit 2006 in Hannover-Langenhagen. Warum haben Sie Hannover als Verlagssitz gewählt?


Seit 1985 lebe ich in dieser Stadt. Und da ich mich mittlerweile hier fest verwurzelt fühle, würde es mir schwer fallen, sie gegen einen anderen Ort einzutauschen. Für einen Verlag ist glücklicherweise der Standort nicht entscheidend.

Was hat Sie in einer Zeit, in welcher viele die Zukunft des Buches angesichts des Vormarsches der elektronischen Informationen schon in Frage stellen, zu diesem mutigen Schritt bewogen?

Die elektronischen Medien sehe ich keineswegs als Bedrohung für das traditionelle Bilderbuch. Der Gimpel Verlag hat sich allerdings bis jetzt für die neuen Formate nicht erwärmen können. Seine Antwort auf diese Entwicklung lautet aufwendig gestaltete, bibliophile Bücher. So etwas wie ein neues Arts and Crafts Movement. Für die paar Menschen da draußen, die ihre Bücher immer noch streicheln wollen.

Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dem Namen „Gimpel“.


Eine Reminiszenz an die Bilderbücher meiner Kindheit, genauer: an Illustrationen, in denen dieser Vogel inmitten einer winterlichen Landschaft auftauchte, seinen roten Bauch stolz zur Schau tragend.


Herr Jaromir wir danken Ihnen.

Vita: Adam Jaromir


Adam Jaromir, 1971 in Bielsko-Biała in Polen geboren, lebt seit 1985 als Verleger, Übersetzer und Autor von Bilderbüchern in Hannover.

Jaromir studierte an den Universitäten Hannover und Florenz Germanistik und Italianistik. Im Jahr 2006 gründete er den Gimpel Verlag, in dem vor allem polnische Autoren und Illustratoren verlegt werden. Zu den Stammautoren und -illustratoren von Gimpel gehören Iwona Chmielewska, Gabriela Cichowska und Pawel Pawlak. Neben seiner Tätigkeit als Verleger und Übersetzer hat er bislang fünf Bilderbücher geschrieben, die in seinem Verlag erschienen sind: Adamek oder wie man aus zwei Äpfeln drei macht (2007), Zarafa (2009), das die Geschichte einer Giraffe im Paris des 19. Jahrhunderts erzählt, Fantje (2010), das die Reise eines weißen Elefanten von Afrika nach Meißen begleitet, Tallula – Königin der Nacht (2012) und Fräulein Esthers letzte Vorstellung – Eine Geschichte aus dem Warschauer Ghetto (2013). Die Recherchen zu „Fräulein Esthers letzte Vorstellung“ wurden durch das Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung ermöglicht. Seine Bücher wurden international und national mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Freitag, 26. September 2014

Interview mit Adam Jaromir

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