Herbsttage der jüdischen Musik 2008

Selma Meerbaum-Eisinger: „Blütenlese“
Vorgestellt als Liederzyklus bei den Herbsttagen der Jüdischen Musik 2008

Im Rahmen der „Herbsttage der Jüdischen Musik 2008“ stellte Prof. Andor Izsák, Direktor des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik (EZJM), erstmalig einige wertvolle Schätze seiner Privatbibliothek der Öffentlichkeit zur Verfügung. Für einige Tage waren diese hebräischen Kostbarkeiten - u. a. Kompositionen von Louis Lewandowski - in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek in Hannover zu sehen.

Prof. Andor Izsák
Prof. Andor Izsák

Zur Ausstellungseröffnung würdigten sowohl Dr. Georg Ruppelt, Direktor der Bibliothek, wie auch Lutz Stratmann, niedersächsischer Minister für Wissenschaft und Kultur, das Engagement von Prof. Izsák. Sein leidenschaftlicher Einsatz führte 1988 zum Aufbau des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik an der Hochschule für Musik in Hannover und somit zur „Wiederbelebung der Musik der zerstörten Synagogen“. Diese einzigartige Synagogalmusik war bis zu diesem Zeitpunkt fester, nicht wegzudenkender Bestandteil der europäischen Musikkultur. Thora-Rollen, Noten, Instrumente, Orgeln und wissenschaftliche Werke sind als umfassendes und lebendiges Zeugnis dieses Einflusses im EZJM zu einer Sammlung zusammengetragen, die in Europa einmalig ist. Stratmann unterstrich auch, dass 70 Jahre nach der Reichspogromnacht die Jüdischen Gemeinden in Deutschland einen Zuwachs an Mitgliedern verzeichnen und der Blick in die Zukunft hoffnungsvoller sei. Sehr persönlich schilderte dann Prof. Andor Izsák das Erleben dieser faszinierenden Musik am Abend oder Samstagvormittag beim Besuch der Synagoge, wenn die Stimme des Kantors erklingt und der Chor - ein Männerchor oder ein gemischter Chor – mit oder ohne Orgelbegleitung singt, was der Kantor „auf Papier geworfen hat.“ In Wien z.B. zog die Musik und Stimme des Kantors Salomon Sulzer Komponisten wie Franz List und Franz Schubert in die Wiener Synagoge. Schubert widmete Sulzer einige seiner Lieder.

Izák berichtete, dass die Rettung vieler Noten dem Frankfurter Kantor Nathan Saretzki zu verdanken ist. Als am 9. November 1938 die Synagoge brannte, versuchte er, alle Noten, die er tragen konnte, vor dem Feuer in das jüdische Gymnasium zu retten. Als der Abtransport nach Auschwitz begann, drückte er dem ersten Mann, dem er begegnete, einen Stoß „Dokumente“ in die Hände: „Bitte, das sind wichtige Dokumente, hüten Sie sie bitte für mich!“ Nach Jahrzehnten las dieser Mann über einen Kanadier mit ähnlich klingendem Namen auf der Frankfurter Buchmesse. Er ging mit den Dokumenten zu ihm auf die Buchmesse und bald stellte sich heraus, dass es der Sohn war. So überlebten die Noten die Pogromnacht und gelangten in den Besitz des Sohnes: darunter Schätze wie die „18 Liturgischen Psalmen“ von Louis Lewandowski, dem „Reformer der Synagogenmusik“ oder wie er auch bezeichnet wird: „der Mendelssohn der Synagoge“.

Lewandowski (1821-1894) wurde durch seinen Lehrer in das Haus von Alexander Mendelssohn, einem Enkel von Moses Mendelssohn und Cousin von Felix Mendelssohn-Bartholdy, eingeführt. Alexander, bei dem die wichtigsten Künstler Berlins verkehrten und musizierten, erkannte sofort die Begabung des Jungen. Er finanzierte Lewandowski den Klavier- und Geigenunterricht. Dank seiner Begabung ist er der erste Jude, der von der Berliner Akademie der Künste aufgenommen wird und den Kompositionspreis der Sing-Akademie gewinnt. Mit dem Bau der neuen großen Synagoge 1866 in der Oranienburgerstraße in Berlin wird Lewandowski zum Dirigenten ernannt. Da die Synagoge eine Orgel besitzt, kann er nun auch eigene instrumentalbegleitete Werke einstudieren. Er vertont Psalmen, komponiert Sinfonien, Kantaten und Lieder. Seinen „18 Liturgischen Psalmen“ für Soli, vierstimmigen Chor und Orgel legt er die deutschsprachigen Psalmentexte zugrunde.

Nach dieser bewegenden Schilderung stellte der Junge Kammerchor Hannover den Liederzyklus „Blütenlese“ nach Gedichten von Selma Meerbaum-Eisinger vor. Die Jüdin Meerbaum - Eisinger (1924 geb.) begann im Alter von 15 Jahren, Gedichte zu schreiben. 1942 wird sie mit ihrer Familie in das Arbeitslager Michailowska in der Ukraine deportiert. Dort starb sie im Alter von 18 Jahren an Typhus. Leidensgefährten konnten ihre Gedichte – handschriftlich in ihrem Band „Blütenlese“ zusammengefasst – retten. 8 Gedichte in der Vertonung von Michael Albert (geb. 1960) und Felicitas Kuckuck (1914-2001) sang der Junge Kammerchor. Vor der Wirklichkeit, die diese junge Dichterin erlebte, ist ihre Poesie so zart und berührend, weil Angst und Bedrohung sich in Zuversicht und Liebe auflösen, wenn sie z.B. im „Schlaflied für dich“ in der 2. und 3. Strophe sagt:

„Ich flechte dir aus meinem Haar

Eine Wiege, sieh!

Schläfst drin aller Schmerzen bar,

träumst drin ohne Müh’.

Meine Augen sollen dir

Blinkend Spielzeug sein.

Meine Lippen schenk’ ich dir –

Trink dich in sie ein.“


Einige Gedichte hat sie aus dem jiddischen übersetzt wie „Das Schlaflied“ von Halper Lejwik (1888-1962). Dort heißt es in der 3. Strophe:

„Hast geweint und hast geklagt,

nun will ich dich wiegen.

Leg den Kopf auf meine Knie –

So ist gut liegen.“

In seinem Dank sprach Dr. Ruppelt am Ende des Konzerts für jeden Zuhörer, als er sagte: „Es ist schwer Worte zu finden, so bewegend ist das!“

Hinzuweisen ist auf eine kleine Ausstellung in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek über das Leben und Werk von Werner Kraft, nach dem auch der Vortragssaal der Bibliothek – Werner-Kraft-Saal - benannt worden ist. Denn Werner Kraft war seit dem 1. März 1928 Bibliotheksrat an der „Vormals Königlichen und Provinzial-Bibliothek“ in Hannover. Im April 1933 wurde er wie seine Kollegin Paula Blank zunächst aus dem Dienst beurlaubt. Seine endgültige Entlassung erfolgte im Oktober. Ab Juni 1933 suchte er über Stockholm, London und Paris Exilmöglichkeiten für sich und seine Familie. Im Juli 1934 begann seine Reise über Marseille nach Palästina. Im August erreichte er Jerusalem. 1937 erschien sein erster Gedichtband „Wort aus der Leere“ in Jerusalem, weitere literaturkritische und dichterische Werke folgten bis zu seinem Tod am 14. Juni 1991. Unter dem Thema: „Meine Ausstellung war lebenslänglich und hörte 1933 auf“ ist sie bis zum 17. Januar 2009 zu sehen.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Mittwoch, 3. Dezember 2008

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