Don Quijote reitet über alle Grenzen

Interview mit Peter von Matt
„ Don Quijote reitet über alle Grenzen – Europa als Raum der Inspiration“

„Peter von Matt zählt zu denen, die an der europäischen Polis bauen.“ heißt es im Vorwort zu Peter von Matts Essay „ Don Quijote reitet über alle Grenzen – Europa als Raum der Inspiration“ , erschienen dieses Jahr im Schwabe Verlag Basel.
Europa als Raum der Macht und des Krieges stellt Peter von Matt, Schweizer Schriftsteller und „Bergler“, in einem engagierten und mutigen Plädoyer ein Europa als Raum der Inspiration gegenüber. „Die Künste sind wie eine Währung, die in jedem Lande gilt, “ erklärt er im Gespräch mit Renate Müller De Paoli, „während die Politik die Grenzen kultiviert und nach Möglichkeit verbarrikadiert. Insofern ist die Dynamik der Künste im europäischen Raum der Beweis für eine real existierende europäische Gemeinschaft überpolitischer Art.“

Peter von Matt
Peter von Matt

Herr von Matt, Sie schreiben Don Quijote trage „die schroffsten Widersprüche der menschlichen Existenz in sich … ein Narr zum Totlachen und ein ergreifender guter Mensch“. Könnte man diese Beschreibung nicht auch sinnbildlich auf Europa übertragen?

Ich zweifle, ob eine solche Gleichsetzung der Romanfigur mit Europa unser Bild des Kontinents klären könnte. Krasse Polaritäten gibt es allerdings in der Geschichte Europas sehr wohl, auch in dessen Werden und Sich-Verwandeln. Man braucht nur einerseits an die gewaltige künstlerische, philosophische und theologische Produktion dieses Erdteils zu denken und andererseits an das grausame Schlachten und Töten überall, Jahrhundert für Jahrhundert. Aber diese Opposition lässt sich nicht zur Deckung bringen mit der hintergründig-grotesken Widersprüchlichkeit Don Quijotes.

Sie beklagen nicht nur in Europa eine „Biologisierung der Politik“. Was meinen Sie damit?

Von einer Biologisierung der Politik kann man dann sprechen, wenn die Bürgerinnen und Bürger eines Staates als ein Volk verstanden werden, das durch die gemeinsame Abstammung zusammengehört. Es ist die Blutsverwandtschaft aller Mitglieder, die angeblich das Wesen des Volkes prägt, und wer anderer Abstammung und Herkunft ist, ist ein Fremder und kann nie wirklich dazu gehören. Fremd ist also, wer eine andere DNA hat. Die faschistischen Staaten haben stets mit solchen Vorstellungen von der Einheit des „Blutes“ ihrer Bürger operiert. Solche Fantasien und Rassen-Konzepte tauchen leider auch heute wieder auf.

Am 10. Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris die „Erklärung der Menschenrechte“ als Antwort auf die Barbarei und Verbrechen des Zweiten Weltkrieges. Seitdem begehen wir den 10. Dezember als „Tag der Menschenrechte“. Doch der Grundsatz „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ scheint immer mehr an Kraft – Sie bezeichnen die Menschenrechte als „Provokation für den Nationalstaat“ – zu verlieren oder …?

Wenn man die Staatszugehörigkeit von der Blutsverwandtschaft herleitet und die Differenzen zwischen Menschen in ihrer unterschiedlichen biologischen Herkunft sieht, die zum Beispiel an der Hautfarbe abzulesen sei, setzt man eine zwingend vorgegebene Ungleichheit zwischen den Menschen voraus. Wenn ein Staat seine Bürgerinnen und Bürger entsprechend klassifiziert und also auch unterschiedlich behandelt, erklärt er sie für ungleich an Würde und Rechten geboren. Das geschieht auch dann, wenn es nicht explizit gesagt wird, sondern nur im politischen Alltag am Handeln der Behörden ablesbar ist.

„Wehret den Anfängen“ heißt es. Doch wo zeigt sich der „Pferdefuß des Nationalstaates“, wo treibt er ins „Rauschhafte“ wie Sie schreiben? Versuchen nicht Menschen gerade in Krisenzeiten, vielfach ihre „ureigensten Ängste und Unsicherheiten“ im „Rauschhaften“ zu kaschieren und zu verdrängen?

Genau diese Versuche, sich vor den Problemen der Gegenwart in irrationale Konzepte vom eigenen Volk und dem Anderssein der Fremden, Eingewanderten etc. zu flüchten, sind eben gefährlich. Sie verhindern eine nüchterne Analyse der Situation und eine vernünftige Lösung der Probleme. Der Hass auf jene, die nicht zu „uns“ gehören, wird dann als Heilmittel hingestellt, dabei ist er eine Flucht vor der komplizierten Wirklichkeit in scheinbar eindeutige Gefühle. Er ist eine Droge, eine Form der Selbstbetäubung.

„Aber wo die Politik überall Gräben aufreißt, da verbindet die Literatur“, schreiben Sie in „ Don Quijote reitet über alle Grenzen – Europa als Raum der Inspiration“, treibt Sie da beim jetzigen Zustand Europas und seiner Politiker nicht eine gehörige Portion Zweckoptimismus? Worauf basiert Ihr Vertrauen?

Ich sage nicht, dass die Literatur die politischen Probleme löse. Aber in Zeiten, da die Spannungen zwischen den europäischen Staaten wieder zunehmen, erkennt man in den großen Kunstwerken, die überall gelesen oder betrachtet werden, also nicht nur dort, wo sie entstanden sind oder ihre Urheber herkommen, wie verwandt man als denkender und fühlender Mensch mit den andern Menschen dieses Kontinentes ist. Dass die politischen Grenzen nicht die Grenzen des Geistes sind. Wenn die Romane von Elena Ferrante heute die Leserinnen und Leser aller europäischen Länder in Bann schlagen, ist das auch ein Ereignis des gemeinsamen Erlebens und Fühlens über alle Grenzen weg. Es hat auch eine politische Dimension.

Wie könnte Europa zum „Raum der Inspiration“ werden? Welche Bausteine und Architektur wäre notwendig?

Die Realität der europäischen Kunst, Philosophie und Wissenschaft macht den Kontinent zu einem Raum der Inspiration. Das ist kein Wunschtraum, sondern bestehende Realität. Holbein, der große Maler, hat in Deutschland, in der Schweiz und in London gewirkt. Johann Heinrich Füssli, der dämonische Maler und skandalöse Zeichner, wäre in Zürich ein Ärgernis gewesen und nichts weiter. Er wäre daran kaputtgegangen. Da schweifte er aus in den größeren Raum der Inspiration und wurde in London ein Epochenereignis. Die Künste sind wie eine Währung, die in jedem Lande gilt, während die Politik die Grenzen kultiviert und nach Möglichkeit verbarrikadiert. Insofern ist die Dynamik der Künste im europäischen Raum der Beweis für eine real existierende europäische Gemeinschaft überpolitischer Art.

Welche Rolle könnte und müsste Deutschland dabei spielen, insbesondere da Sie eine starke Identifizierung mit Shakespeares Hamlet in Deutschland sehen?

Im Zusammenspiel der europäischen Länder – sei es politisch, sei es wirtschaftlich, sei es kulturell – kommt Deutschland dank seiner wirtschaftlichen Stärke heute eine besonders gewichtige Rolle zu. Aber keine führende. Es gibt keinen Staat, der das lebendige und komplexe Gefüge Europa führt, und es darf auch keinen geben. Die europäischen Staaten sind und bleiben politische Individuen. Sie haben aber erkannt, dass sie nur sie selbst sein können, indem sie kooperieren. Wie das genau geht, erproben sie seit dem Ende des 2. Weltkriegs, und es ging dabei immer auf und ab, in einem langsamen, zähen Prozess. Ich habe das mitverfolgt, seit ich ein Bub war, der anfing, Zeitungen zu lesen. Immer wieder scheiterte ein Projekt, dafür glückte etwas später wieder ein anderes. Und immer gab es die Untergangspropheten, die voraussagten, dass die wacklige Gemeinschaft demnächst kaputtgehen werde. Diese Untergangspropheten gibt es auch heute. Wenn man sie genau beobachtet, sieht man, dass sie sich unglaublich wichtig vorkommen.

Herr von Matt, Sie haben im Mai diesen Jahres Ihren 80ten Geburtstag gefeiert, und werfen somit die Erfahrungen einer Generation, die erlebte, wie Europa sich zerfleischte, in die Waagschale, einen gewaltigen Erfahrungsschatz als Schweizer und Europäer. Versuchen Sie mit „ Don Quijote reitet über alle Grenzen" all diejenigen aufzurütteln, die die „Zeichen an der Wand“ nicht mehr sehen oder lesen können?

Solche Wirkungen masse ich mir nicht an. Ich wurde gebeten, eine Rede über Europa zu halten, und wollte zeigen, dass es da nicht nur um Abkommen und Verträge und Gesetze geht, sondern um Vergangenheit und Zukunft eines der geistig schöpferischsten Kontinente auf diesem Planeten. Und dass die Schweiz geographisch und historisch und wirtschaftlich und wissenschaftlich und kulturell dazugehört. Auch politisch gehört sie dazu, indem sie an der Art dieser Zugehörigkeit immerzu herumbastelt. Darüber gibt es im Inland ein endloses Geschrei und Gekeife, während gleichzeitig die Schweizer Architekten in ganz Europa die prächtigsten Bauten errichten. Im Raum der Inspiration sind wir voll dabei.


Herr von Matt wir danken Ihnen.

Vita: Peter von Matt


Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern, lebt in der Nähe von Zürich. Von 1976-2002 war er Ordinarius für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich.
Zu seinen zahlreichen Buchpublikationen zählen u. a.:
„Liebesverrat“, „Verkommene Söhne, missratene Töchter“, „Die Intrige“, „Sieben Küsse“ sowie zwei Bücher über die literarische und politische Schweiz: „Die tintenblauen Eidgenossen“ und „Das Kalb vor der Gotthardpost“. Dazu mehrere Bände mit Essays und Reden.
Peter von Matt ist Mitglied in vier deutschen Akademien und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet u. a. 2014 mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt, 2017 mit dem Festspielpreis der Stadt Zürich.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Montag, 18. September 2017

Interview mit Peter von Matt

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