Realitätsfern oder seiner Zeit weit voraus

Zum 375. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz
Prof. Wenchao Li im Interview

Kenner und Verehrer von Gottfried Wilhelm Leibniz haben 2021 mit großer Bewunderung seinen 375. Geburtstag gefeiert. Doch welche Bedeutung hat das Werk dieses Universalgelehrten über das akademische Interesse hinaus? Kann uns Leibniz auch heute noch in unserer krisengeschüttelten, komplexen und global vernetzten Welt Antworten geben? Prof. Wenchao Li, Leiter der Leibniz-Edition Potsdam der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, erklärt im Interview: „Gerade weil wir in einer Welt leben, in der die Menschenwürde und Menschenrechte durch Armut, Hunger und Kriege bedroht und mit Füßen getreten werden, lohnt es sich umso mehr, sich mit Leibniz zu beschäftigen und sich auf sein Erbe und Vermächtnis zu besinnen.“

Prof. Wenchao Li


Herr Li, Sie selbst haben in Hannover im Zuge der damaligen Leibniz-Stiftungsprofessur als „hannoverscher Leibnizprofessor“ engagiert versucht, Leibniz einer breiteren Öffentlichkeit näher zu bringen. Kann die Beschäftigung mit Leibniz, das Kennenlernen dieses Philosophen, Naturwissenschaftlers und Politikers Menschen in der jetzigen krisengeschüttelten Zeit, die wir nicht nur in Europa erleben, Antworten und Lösungen geben? Leibniz’ Grundüberzeugung war doch, wir leben „in der besten aller möglichen Welten“. Kann Leibniz in einer Welt, in der die Menschenwürde und Menschenrechte durch Armut, Hunger und Kriege bedroht und mit Füßen getreten werden, überhaupt noch überzeugen? Wie gegenwärtig, wie „modern“ ist Leibniz?

Mit seinem gewaltigen und reichhaltigen Nachlass – die maßgebliche Akademie-Ausgabe hat inzwischen mehr als 60 Bände seiner Briefe und Schriften vorgelegt – hat Leibniz ein einmaliges kulturelles Erbe von mindestens europäischem Rang hinterlassen. Die dabei behandelten Fragen betreffen das gesamte Wissens- und Wissenschaftsspektrum der zweiten Hälfte des 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts, Philosophie, Mathematik und Logik, Jura, Physik, Technik, Poesie, Medizin, Geologie, Geschichte, Sprachwissenschaft und Theologie: Leibniz´ Schriften zu allen diesen Disziplinen spiegeln auf höchster Ebene sowohl den Wissensstand einer Epoche als auch Neuansätze, die in unsere Zeit hineinführen. Diesen Schatz zu heben und diesen Gedankenreichtum für uns fruchtbar zu machen, also in die Gegenwart zu stellen, ist unsere Aufgabe (und Aufgabe jeder Zeit). Die in der Tat oft belächelte These der „besten aller möglichen Welten“ ist voraussetzungsreich. Für Leibniz war sie in erster Linie ein metaphysischer Satz, der sich nicht durch Erfahrungen ins Wanken bringen lässt. Unabhängig davon bedeutet die These nicht, dass die „beste aller möglichen Welten“ eine Welt frei von Übel, welcher Art auch immer, sei. Leibniz´ eigentliches Anliegen in der Theodizee (Versuche über die Güte Gottes, die Freiheit des Menschen und den Ursprung des Übels, 1710) war, wie der Untertitel zeigt, die Freiheit des Menschen und seine Verantwortung für diese von Gott nach dem Prinzip des Bestmöglichen erschaffene Welt herauszuarbeiten – Eine Welt ohne Freiheit des Menschen wäre durchaus möglich gewesen. Wäre sie aber dann eine bessere? –. In diesem Sinne: Gerade weil wir in einer Welt leben, in der die Menschenwürde und Menschenrechte durch Armut, Hunger und Kriege bedroht und mit Füßen getreten werden, lohnt es sich umso mehr, sich mit Leibniz zu beschäftigen und sich auf sein Erbe und Vermächtnis zu besinnen.


Welchen Problemen versuchte sich Leibniz, der 1646, zwei Jahre vor dem Ende des 30-jährigen Krieges, in ein völlig verwüstetes, zerstörtes Europa geboren wurde, als junger Mensch zu stellen?

Einen ambitionierten, frisch promovierten Absolventen finden wir in dem jungen Leibniz, der auf eine akademische Laufbahn verzichtet und sich bewusst für einen Hofdienst entscheidet; von „Sendungsbewusstsein“ und „Selbstvertrauen“ ist in der Forschung öfter auch die Rede. In der Tat: keine geringeren Aufgaben hat der junge Leibniz sich gestellt, als Frieden zu schaffen, Kriege zu beenden, das Allgemeinwohl zu befördern und die Welt zu verbessern. Davon zeugen viele seiner Projekte, die er in der Mainzer Zeit begann und später weiter verfolgte. Durch Rechtsreform – Leibniz war Jurist – soll Rechtssicherheit herbeigeführt werden; durch vernünftige Auslegung der Glaubenssätze sollen die gespaltenen Konfessionen wiedervereinigt werden; durch Förderung der Wissenschaften soll das alltägliche Leben der Menschen – er spricht oft von der „Menschheit“ verbessert werden …. „Ich habe von meiner ersten jugend an … mein gemüth auff perfectionem Generalem der Menschlichen Wissenschafften und gemeines beste gerichtet“, so schrieb Leibniz 1688 in einer an Kaiser Leopold I. gerichteten Schrift. Kurz: „Leibniz war ein eminent politischer Philosoph“ (Heinrich Schepers), wobei „politisch“ hier eben ganz allgemein die Sorge um das Gemeinwohl (bonum commune) bedeutet.

Gottfried Wilhelm Leibniz, Porträt von Christoph Bernhard Francke, um 1700; Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig

Aber hatten seine politischen Vorschläge auch Durchsetzungskraft? Ich denke gerade jetzt vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie an seinen Vorschlag zur Bildung einer Medizinalbehörde (1680), letztlich der Vorläufer der Gesundheitsämter. Seine Forderung nach entscheidenden Hygienemaßnahmen, ebenso wie das Pochen auf ausreichende Ernährung sind erstaunliche Vorschläge für die damalige Zeit.

„Durchsetzungskraft“ wäre kein angemessener Ausdruck. Zur Durchsetzung politischer Vorschläge wäre Macht nötig, und Macht hat Leibniz nicht. Vielmehr hätten, nach ihm, die Machthaber die Pflicht, den „Weisen“, also unter anderem ihm selbst zuzuhören und ihren Ideen zur Realität zu verhelfen, was häufig nicht der Fall war. Viele Vorschläge, auch wenn sie heute nicht gerade utopisch klingen, waren in der damaligen Staats- und Verwaltungspraxis gar nicht umsetzbar.
Neben der Tugend (Leibniz würde von „Seelenheil“ sprechen) ist die Gesundheit das wichtigste, sie ist die Grundlage für das persönliche Glück und ebenso für eine das Gemeinwohl fördernde stabile Wirtschaft. So war es kein Wunder, dass das Gesundheitswesen für Leibniz hohen Stellenwert besaß und dass er sich auch diesem Thema in zahlreichen Denkschriften widmete. Leibniz selber war kein Arzt (was ihm zufolge eher ein Vorteil war für seine Beschäftigung mit dem Thema), er ordnete das Gesundheitswesen der staatlichen Fürsorgepflicht zu, seine Überlegungen konzentrierten sich auf die politisch-administrative Seite und auf Bekanntmachung gewisser bewährter Medikamente (etwa die Ipecacuanha-Wurzel aus „Westindien“ gegen die Ruhrepidemie). Das vom italienischen Arzt Bernardino Ramazzini entwickelte Modell zur Analyse epidemischer Krankheiten und Tierseuchen fand Leibniz´ volle Zustimmung. Um 1701 schlug er vor, in verschiedenen Orten Brandenburg-Preußens regelmäßig medizinisch-meteorologische Beobachtungen durchzuführen. Es ging dabei darum, parallel Statistiken zum Gesundheitszustand von Mensch, Tier und Pflanze einerseits und zum Wetter andererseits zu führen, um so einen vermuteten Zusammenhang zwischen Wetter und dem Auftreten von Krankheiten dingfest zu machen. Viele seiner diesbezüglichen Vorschläge konnten erst später realisiert werden. Nicht ohne Grund wurde Leibniz daher auch zum „Vorläufer moderner Sozialstaatlichkeit“ erklärt.



Wie hat Leibniz selbst seine Rolle als Nicht-Adliger an den Kaiser- und Fürstenhöfen, besonders am Hof der Welfen in Hannover gesehen, wo er 40 Jahre seines Lebens verbrachte? Wie ist er mit den Widerständen der damaligen Bürokratie umgegangen?

Am Hof der Welfen hat der Gelehrte Leibniz eine Reihe von Ämtern und Tätigkeiten wahrgenommen. Er war Bibliothekar in Hannover und in Wolfenbüttel, Haushistoriograph, Geheimer Justizrat, und eine Zeit lang gar für den Harzer Bergbau zuständig. Als Leibniz 1716 starb, war er zudem Reichshofrat (Berater des Kaisers), Geheimer Justizrat des Zaren, des preußischen Königs, Präsident der Preußischen Akademie, Mitglied der Pariser Académie des sciences und der Royal Society in London. Natürlich war auch ein Leibniz auf die Bürokratie, der er in vielerlei Hinsicht zuzuarbeiten hatte, angewiesen und hatte mit ihr umzugehen, nicht immer mit Erfolg. Seine Vorschläge wurden oft genug von den Fürsten abgelehnt und, wenn diese sie doch billigten, von den vergleichsweise machtlosen Verwaltungsbeamten nicht umgesetzt. Nur ein Beispiel von vielen: Seine Idee, eine kaiserliche Sozietät der Wissenschaften in Wien zu errichten, fand beim Kaiser große Zustimmung. Im August 1713 wurde er, ein Lutheraner im katholischen Wien, zum Präsident der Kaiserlichen Akademie ernannt. Die Diskrepanz zwischen dem Kaiser und der kaiserlichen Bürokratie, der Reichskanzlei, hat Leibniz indessen mächtig unterschätzt; der Kaiser mag seine Zustimmung zu vielem geben, diese in die Praxis umzusetzen, obliegt der Hoheit der Bürokratie, die schon damals langsamer mahlte als es nötig gewesen wäre.


Der Politiker und „Projektemacher“ Leibniz wird oft als „gescheiterter Fantast“ bezeichnet, aber war er seiner Zeit nicht einfach weit voraus? Hat er auf vielen Gebieten nicht nur versucht, die Grenzen des bislang Möglichen zu überwinden? Immerhin sind wir von vielen Maßnahmen, die er z.B. im Bereich Gesundheit vorgeschlagen hat, leider selbst im 21. Jahrhundert, wie COVID-19 zeigt, in vielen Ländern noch sehr weit entfernt. Wie realitätsfern war Leibniz wirklich?

„Fantast“ war Leibniz keineswegs, „realitätsfern“ ebenso wenig, „seiner Zeit weit voraus“ wohl. Hineingeboren in kriegerische Zeiten, starb der Vater, als der Junge 6 Jahre alt war; mit 18 verliert Leibniz die Mutter; zwei Jahre später verweigerte ihm die Heimatuniversität die Promotion; sein binäres Zahlensystem, welches die Grundlage unserer Computertechnologie bildet, wurde anfangs (1701) von der französischen Akademie der Wissenschaften höflich zur Publikation abgelehnt, da sich der praktische Nutzen dieser Entdeckung damals noch nicht absehen ließ. …. „Homo homini lupus“ (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) ist ein Spruch, den Leibniz gut kannte, und er beklagte oft, dass die Menschen fast nur daran arbeiten, sich (und andere) unglücklich zu machen, obwohl wir schon so vielen Unbilden der Natur ausgeliefert sind …Nur, Resignation ist keine Option, die Realität ist dazu da, verbessert und vervollkommnet zu werden. In der Theodizee spricht Leibniz von drei „Haltungen“ der Realität (dem Schicksal) gegenüber: „Fatum Mahumetanum“ (nach Leibniz eine falsch verstandene Idee von der Notwendigkeit, man gehe offensichtlichen Gefahren nicht aus dem Wege und vermeide selbst die von der Pest infizierten Plätze nicht), „Fatum Stoicum“ (des Menschen Sorgen seien nutzlose Mühe) und schließlich „Fatum Christianum“, das nach Leibniz durch aktives Handeln nach bestem Wissen gekennzeichnet sei. „Wir müssen vielmehr dem mutmaßlichen Willens Gottes gemäß handeln, sofern wir ihn beurteilen können und mit unserer ganzen Kraft versuchen, zum allgemeinen Wohle beizutragen und insbesondere zur Schönheit und Vollkommenheit dessen, was uns angeht bzw. dessen, was uns nahe ist und sozusagen in unserem Bereiche liegt. Wenn dann der Ausgang vielleicht zeigt, dass Gott vorerst nicht gewollt hat, dass unser guter Wille erfolgreich ist, so folgt daraus nicht, dass er nicht gewollt hat, dass wir taten, was wir getan haben.“

Leibniz’ Vier-Spezies-Rechenmaschine – Original, um 1690 (Quelle: Wikipedia)

Ein Ziel, um das Leibniz’ Gedanken immer wieder kreisten, war der Aufbau einer „Gelehrtenrepublik“. Waren seine Akademiepläne als Anfangsbausteine gedacht? Könnten Sie das Konzept genauer erklären?

„Gelehrtenrepublik“ (République des lettres) war zu Leibniz´ Zeit bereits Praxis in Europa, über nationale Grenzen und Sprachen hinweg. Davon zeugen seine bis nach China reichenden Korrespondenznetzwerke und seine Kontakte zu bestimmten gelehrten Milieus. Die Hauptinformationenwege der Gelehrtenrepublik waren Korrespondenzen, diese waren wiederum eines der wichtigsten Publikationsmittel.
Akademien als gelehrte Gesellschaften tragen hingegen seit ihrer Gründung nationale Züge und stehen zeitgemäß unter der Protektion jeweiliger Potentaten, wie bereits ihre Namen anzeigen, etwa die in Paris ansässige Académie royale des sciences (gegründet 1666) oder die Royal Society in London (1660), auch wenn ihre Mitglieder europaweit rekrutiert wurden. Die Gelehrtenrepublik als Gemeinschaft der wissenschaftlich Korrespondierenden war eine eher unorganisierte, lose Gemeinschaft von interessierten Privatleuten, während die Akademien die kollektive Arbeit organisieren und institutionalisieren sollten.
Schon in seiner Mainzer Zeit (1668–1672) war Leibniz die Gründung einer – deutschen –Sozietät der Wissenschaften (als staatlicher Einrichtung) ein wichtiges Anliegen. Erst mit der Errichtung der Kurfürstlich Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften im Jahre 1700 konnte diese Idee realisiert werden. Was Leibniz´ Ideen und Pläne auszeichnetet, war die anwendungsorientierte Vereinigung der Theorien mit der Praxis (Theoria cum praxi) durch institutionalisierte und koordinierte Zusammenarbeit vieler Gelehrter an wissenschaftlichen Fragen (was recht neu und nicht etabliert war). Zu den Mitgliedern zählten daher neben Gelehrten auch Ingenieure und Handwerker. Allerdings war die Finanzierung stets ein Problem, und zeit seines Lebens hat sich Leibniz diesbezüglich einiges einfallen lassen, etwa ein Quittungsbuchprivileg, die Einführung von Feuerspritzen, einen Schulbuchvertrieb, die Etablierung eines Maß- und Gewichtsamts, eine Erhöhung der Tabaksteuer, eine Besteuerung von Spielkarten, Kalendermonopol und Plantage von Maulbeerbäumen zur Seidenproduktion etc. Viele seiner Pläne sollten sich später als nicht durchführbar erweisen. Immerhin, vier namhafte europäische Akademien bezeichnen noch heute Leibniz als ihren Initiator: neben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften die Sächsische Akademie, die Österreichische Akademie und die Russische Akademie der Wissenschaften.



Im Zuge der Digitalisierung wird gegenwärtig viel über Open Access, Open Science und Community Science diskutiert, sehen Sie dort Ansätze zu Leibniz’ Konzept der „Gelehrtenrepublik“ oder gibt es fundamentale Unterschiede?

Die Digitalisierung bietet in der Tat neue Chancen, auch für die Wissenschaften und ihre Communities. Die Leibniz-Edition profitiert zum Beispiel viel von den neuen Technologien, für Recherchen wie für die Herstellung und Präsentation ihrer Editionsergebnisse (die meisten im Druck erschienenen Bände und viele Hilfsmittel sind unter www.leibnizedition.de kostenfrei zugänglich). Indessen scheint mir, dass Formate wie Open Access, Open Science und Community Science noch in der Versuchsphase stecken; es fehlen, zumal für die Geisteswissenschaften, weitgehend noch eindeutige Zielsetzungen und Organisationsrichtlinien. Die „Gelehrtenrepublik“ Leibniz´scher Prägung war trotz der „res publica“ eine geschlossene Community mit auf die Mitglieder beschränkter Interaktion und (ungeschriebenen) Regeln, und er bewegte sich mehr oder weniger in einem Spannungsfeld zwischen einerseits dem Achten auf Reputation in der Gelehrtenrepublik (was dazu führte, dass er z.B. seine mathematischen Lösungswege geradezu geheim gehalten hat) und andererseits dem Nutzen der Korrespondenzen zum Ideenaustausch. Es könnte sein, dass Leibniz´ Position auch aus einem anderen Grund wohl ambivalent gewesen wäre: Er war gegenüber nicht-gelehrtem Wissen durchaus offen (handwerkliche Erfahrung, Volksmedizin), wollte aber Qualitätsstandards sogar mittels Zensur durchsetzen. Die Vorstellung von Open Access in einer Ständegesellschaft, in der Bildung ein Privileg von ganz wenigen war, mag ein bisschen merkwürdig vorkommen. Dennoch: Open Science setzt ein so großes und dichtes Netzwerk von Forschungseinrichtungen voraus, die über mehr oder weniger frei einsetzbare finanzielle Mittel verfügen, wie es zu Leibniz‘ Zeit noch nicht vorhanden war. Ich könnte mir gut vorstellen, dass er an seiner Schaffung gern gearbeitet hätte.


Er selbst pflegte ja ein riesiges, weltweites Korrespondentennetzwerk, 15.000 Briefe sind wohl von ihm überliefert. Inwieweit sind sie inzwischen erforscht?

Dieser umfangreiche Briefwechsel ist in seinen großen Zügen inzwischen recht gut erforscht. Wir wissen heute, dass er deutlich mehr als die genannten 15.000 Briefe umfasste, vielleicht an die 20.000 und dass auch die Zahl der Korrespondenten höher ist, als man lange geglaubt hat. Andererseits ist seine Erforschung nicht nur unter inhaltlichen Aspekten, sondern unter der Fragestellung, wie er als Arbeits- und Informationsinstrument des Gelehrten gedient hat erst relativ jung. Hier ist noch viel Arbeit zu leisten – und das heißt zugleich: hier sind noch viele Erkenntnisse zu erwarten. Die breite Überlieferung auch ganz banaler Alltagsbriefe rückt zudem die im engeren Sinne gelehrte Korrespondenz in die richtige Perspektive, erdet sie. So ist der außerordentliche Umfang der erhaltenen Korrespondenz wissenschaftliche Herausforderung und Chance zugleich – zumal die späteren Briefe noch nicht ediert sind, ja häufig nicht einmal in älteren Drucken vorliegen.

Brief von Leibniz nach Kiel aus dem März 1716 eine Veröffentlichung betreffend (Quelle: Wikipedia)


Angesichts dieser regen Briefkorrespondenz ist die Charakterisierung von Leibniz als „schrulliger, einsamer Junggeselle“ schwer nachvollziehbar. Wie war seine Beziehung zur Kurfürstin Sophie? Und was bedeutete der frühe, unerwartete Tod ihrer Tochter Sophie Charlotte für Leibniz?

Die Charakterisierung ist schlicht grundfalsch; „Junggeselle“ zu sein, war unter den großen Gelehrten zu Leibniz´ Zeit eher normal; „einsam“ mag er in den letzten Lebensjahren gewesen sein, das dürfte aber zu den Grunderfahrungen des Menschseins gehören. Nein, nach meiner Einschätzung war Leibniz durchaus ein offener, gesprächs- und diskussionsfreudiger Gelehrter, der angenehmen Umgang mit Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten pflegen konnte und in der Lage war, tiefe Gedanken verständlich und oft nicht ohne Humor auszudrücken und dem Gegenüber nahezubringen.
Mit der Herzogin, später Kurfürstin Sophie, verband Leibniz eine dreieinhalb Jahrzehnte lange Bekanntschaft – man kann für die späteren Jahre von Vertrautheit sprechen. Diese setzte Anfang 1680 beim Übergang des Herzogtums Hannover an ihren Gatten Ernst August nach dem Tod von dessen Bruder Herzog Johann Friedrich ein und dauerte bis zu Sophies Tod im Frühsommer 1714. Die Kurfürstin schätzte Leibniz´ umfassende Auskunftsfähigkeit und Sachkenntnis auf den Feldern von Wissen, Handeln und Politik ebenso wie seine Befähigung zu höfischer Unterhaltung. Sie begegnete dem großen Gelehrten mit anhaltender Wertschätzung und verschaffte ihm wiederholt Rückhalt bei ihrem Gatten, später bei ihrem Sohn. Leibniz hatte in ihr ein interessereiches, aufnahmebereites Gegenüber. Aus dieser Begegnung sind knapp 380 Schriftstücke überliefert, zum größten Teil in Briefform als Fortsetzung des sonst im persönlichen Gespräch gepflegten Gedankenaustausches. Der Ton reicht von Tiefe und Ernsthaftigkeit bis zum leichten, scherzhaften Plauderton, ohne dass jedoch jemals der Abstand zwischen der Fürstin und dem gelehrten Bürgerlichen in Frage gestellt würde. Als Sophie am 8. Juni 1714 starb, hielt sich Leibniz in Wien auf. Der Verlust war natürlich groß, schließlich träumte Leibniz fern in Wien noch, eines Tages mit Kurfürstin wieder spazieren zu gehen, „sei es in Herrenhausen, sei es … in Saint James“ in London – eine Anspielung auf die englische Sukzession. Die Würdigung erfasst Leibniz in seinem Gedicht auf den Tod der Kurfürstin: „Die Sich schohn auf der Welt geschwungen Himmel an,/ Gott ohne falsch gelibet, dem Nechsten guths gethan/ In unglück nicht verzagt, im glück sich nicht erhoben,/ Und alles angesehen als käme es ihr von oben;/ Die mit der hoheit glanz die Demuth vergesellt/ Verstand und Tugend sich als Richtschnur vorgestellt …“.
Der frühe Tod der Kurfürstin und Königin Sophie Charlotte (nicht einmal 37-jährig am 1. Febr. 1705), die sich als Leibniz´ „Schülerin“ bezeichnete, war für ihn ein Schock (Leibniz spricht von „Betäubung“, aus der er noch erwachen muss) und großer persönlicher Verlust. Den tiefen Schmerz spürt man in seiner großen, 29 Strophen umfassenden Elegie: „Der Preußen Königin verlässt den Kreis der Erden,/ Und die Sonne wird nicht mehr gesehen werden;/ Des hohen Sinnes Liecht, der wahren Tugend Schein,/ Der Schönheit heller Glanz soll nun erloschen seyn. …“.



Herr Li, Leibniz’ Fußstapfen sind zwar gigantisch, nichtsdestotrotz welche Herausforderungen sollten wir von ihm annehmen? Wo sollten wir ihm folgen? Wo kann er für uns – selbst nach 375 Jahren – ein Vorbild sein?

Eine erwartete, gute Frage, und ein weites Feld! Wir wollen uns mit einem Beispiel begnügen: China, das wieder in aller Munde ist. Bekanntlich hat sich Leibniz lebenslang mit China, seiner Geschichte, Kultur, Politik, Religion und Philosophie beschäftigt. Mit den Novissima Sinica (Das Neueste von China, 1697, 2. Auflage 1699) hofft er, einen Wissensaustausch zwischen Europa und Asien durch Russland zu beiderseitigem Nutzen anzustoßen; mit der Initiative, in Deutschland ein China-Institut zu errichten, wünscht Leibniz, chinesische Gelehrte nach Europa zu holen und junge Leute an die chinesische Kultur und Sprache heranzuführen. Noch in seinen letzten zwei Lebensjahren, um 1715/1716, verfasst er, in Briefform, eine lange Abhandlung über die chinesische Philosophie (nach ihm: die natürliche Theologie der Chinesen). Leibniz konnte kein Chinesisch, seine Vorlage waren einige in Französisch verfasste Publikationen; sein Anliegen bestand darin, gegen die Interpretationen einiger Missionare, den chinesischen Textpassagen eine „vernunftgemäße“ Deutung zu geben und so eine Brücke zwischen europäischer philosophischer Tradition und dem chinesischen Denken zu schlagen. Gerade in unserem globalen kulturellen Kontext würde sich eine Besinnung auf Leibniz’ Versuch lohnen. Unsere Welt ist ökonomisch, verkehrstechnisch und politisch zu einer eng vernetzten Einheit zusammengewachsen, wir müssen einfach lernen, aus verschiedenen Ursprüngen gewachsene Kulturen ineinander übersetzbar zu machen, gerade auch dann, wenn wir sie in ihrer Besonderheit nicht nivellieren, sondern ihre Vielfalt als den geistigen Reichtum unserer Welt erhalten wollen. Darin scheint mir Leibniz ein Vorbild zu sein.


Herr Li, wir danken Ihnen.

Vita: Prof. Wenchao Li


Prof. Wenchao Li, geb. 1957 in China, studierte Germanistik, Philosophie, Linguistik und Politologie in Xi´an, Peking, Heidelberg und Berlin; seit 2005 ist er Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin, seit 2007 Leiter der Leibniz-Edition Potsdam der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Von 2010 bis 2017 war er Inhaber der Leibniz-Stiftungsprofessur in Hannover.

Li ist ferner Herausgeber der Studia Leibnitiana, Vize-Präsident der Gottfried Wilhelm Leibniz Gesellschaft und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirates der Leibniz Gesellschaf, Comité Directeur der Fédération Internationale des Societés de Philosophie (FISP) und Vorsitzender der FISP-Kommission für die Geschichte der Philosophie.


Die Fragen stellte Renate Müller De Paoli.
Herr Li beantwortete diese schriftlich am 6. Januar 2022.

Prof. Wenchao Li im Interview

Realitätsfern oder seiner Zeit weit voraus:
Zum 375. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz.

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