Prof. Dr. Gerald Hüther im Interview

„Jungen und Mädchen lernen alles, wenn es sie nur einigermaßen interessiert und begeistert“, sagt Prof. Gerald Hüther, einer der bekanntesten Hirnforscher Deutschlands. Er leitet die Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung der psychiatrischen Universitätsklinik Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/Heidelberg. Mit ihm hat Renate Müller De Paoli über das viel beklagte „schlechte Abschneiden von Jungen“ in der Schule gesprochen:

Jungen hinken, wenn es um Sprach- und Lesekompetenz geht, den Mädchen hinterher, so zumindest das Ergebnis der letzten statistischen Erhebungen. Gibt es dafür tatsächlich neurobiologische Gründe? Welche Erkenntnisse hat die Hirnforschung gegenwärtig über die Entwicklung von Lese- und Sprachzentrum? Gibt es wirklich Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen?

Jungen und Mädchen lernen alles, wenn es sie nur einigermaßen interessiert und begeistert. Und immer dann, wenn sie sich für etwas begeistern, werden im Gehirn sog. Neuroplastische Botenstoffe freigesetzt, die wie Dünger das Wachstum neuer Fortsätze und den Aufbau neuer Vernetzungen in den betreffenden Regionen ihres Gehirns stimulieren, die sie im Zustand der Begeisterung besonders intensiv nutzen. Bei den Mädchen scheint das heutzutage zumindest im Durchschnitt auch das Sprechen, das mit anderen Reden zu sein. Bei den Jungen ist es das offenbar etwas weniger, sie interessieren und begeistern sich dafür für anderes stärker. Zum Beispiel für das Machen, für das eigene Tun, für große Autos und für alles, was ihnen in ihren Augen im Leben irgendwie Halt bietet.

Was ist der höheren Testosteronausschüttung bei Jungen geschuldet? Spielen deshalb Jungen mit Bauklötzen und Autos und sind auf Abenteuer aus? Oder ist das Klischee?

Die bereits vorgeburtliche Überflutung des Gehirns männlicher Föten mit dem von ihren Hoden produzierten Testosteron beeinflusst die weitere Ausreifung ihres Gehirns so, dass sie mit mehr Antrieb und weniger innerem Halt zur Welt kommen. Ihr Gehirn ist mit einem Orchester vergleichbar, in dem die Pauken und Trompeten in die vordere Reihe und die Flöten und Geigen nach hinten gerückt sind. Deshalb machen sich Jungs auch nach der Geburt etwas anders auf den Weg. Ihnen ist anderes wichtig, sie achten auf anderes, begeistern sich für anderes als die Mädchen – jedenfalls im Durchschnitt. So machen sie andere Erfahrungen und bekommen deshalb auch ein anderes Gehirn.

Sie sagen, dass Gehirn ist zeitlebens in der Lage sich an neue Nutzungsbedingungen anzupassen. Was folgt daraus z. B. für die Lese- und Sprachförderung?

Wir müssten stärker darüber nachdenken, wie es gelingen kann, dass Jungs das Sprechen, Lesen und Schreiben als für sich selbst bedeutsam und wichtig einschätzen. Wir müssten Bedingungen schaffen, die dazu führen, dass vor allem Jungs unbedingt besser sprechen, lesen und schreiben lernen wollen. Daran hapert es gegenwärtig. Didaktisches Material und Verfahren, wie man das dann alles vermittelt, haben wir genug.

In unserer medialen Welt ist das Gehirn für Sie, Herr Prof. Hüther, vor allem auch ein „Sozialorgan“. Was meinen Sie damit? Welche Rolle spielt da die „Gesamtpersönlichkeit“ eines Menschen?

Das menschliche Gehirn strukturiert sich anhand der von einem Kind beim Heranwachsen in eine bestimmte Lebenswelt gemachten Erfahrungen. Das sind immer primär soziale Erfahrungen. Ohne andere Menschen, die ihm zeigen, wie es geht, lernt kein Kind den aufrechten Gang, auch keine Sprache und auch sonst nichts von all dem, was wir alle in unserem Kulturkreis heutzutage können und wissen. Das Gehirn ist also ein durch soziale Erfahrungen geformtes Organ. Da jedes Kind andere Erfahrungen macht, bekommt auch jedes Kind ein anderes Gehirn, eben eines, das genau zu seinen Erfahrungen passt und mit dessen Hilfe es in der Lage ist, sich in seiner Lebenswelt zurechtzufinden.

Nun verbringen Kinder und Jugendliche, wie auch die Erwachsenen, u. a. besonders die Väter, immer mehr Zeit vor dem Computer und Fernseher. Fehlt es Kindern, besonders den Jungen an Vorbildern?

Ja, und zwar sehr. Und die männlichen Vorbilder, die sie finden oder die wir ihnen anbieten, vor allem die, die ihnen in den Medien präsentiert werden, sind leider extrem fragwürdig. Um hier neue Maßstäbe zu ermöglichen, haben wir eine Initiative „Männer für Morgen“ in der Sinn-Stiftung ins Leben gerufen.

Welchen Rat gibt der Hirnforscher verunsicherten Eltern?

Es gibt schon viel zu viele Experten und Ratgeber, die Eltern laufend verunsichern. Es wird deshalb höchste Zeit, dass Eltern wieder lernen, selbst Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen. Nicht im Kopf, sondern aus ganzem Herzen.


Herr Prof. Hüther, wir danken Ihnen.

Vita von Prof. Dr. Gerald Hüther


Prof. Dr. Gerald Hüther, Sachbuchautor, Leiter der Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung der Universitäten Göttingen und Mannheim/Heidelberg.


Prof. Dr. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern Deutschlands. Er leitet die Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung der psychiatrischen Universitätsklinik Göttingen und des Instituts für Public Health der Universität Mannheim/Heidelberg. Er schreibt Sachbücher, hält Vorträge, organisiert Kongresse, arbeitet als Berater für Politiker und Unternehmer. Als Mitherausgeber wissenschaftlicher Zeitschriften, Mitbegründer des Netzwerkes für Erziehung und Bildung und häufiger Gesprächsgast in Rundfunk und Fernsehen ist er Wissensvermittler und –umsetzer in einer Person.

Studiert und geforscht hat er in Leipzig und Jena, dann seit 1979 am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen. Er war Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und leitete von 1994-2006 eine von ihm aufgebaute Forschungsabteilung an der psychiatrischen Klinik in Göttingen.

In seiner Öffentlichkeitsarbeit geht es ihm um die Verbreitung und Umsetzung von Erkenntnissen aus der modernen Hirnforschung. Er versteht sich als „Brückenbauer“ zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlicher bzw. individueller Lebenspraxis. Ziel seiner Aktivitäten ist die Schaffung günstigerer Voraussetzungen für die Entfaltung menschlicher Potenziale, speziell im Bereich Erziehung und Bildung sowie auf der Ebene der politischen und wirtschaftlichen Führung.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Freitag, 21. Oktober 2011

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