„Quo vadis Europa?"

Professor Dr. Armin Hatje im Interview

Sind die Tage der Europäischen Union als Organisation und Idee gezählt? Drohen Egoismus und Nationalismus den Prozess zu einem solidarischen und vereinten Europa zu zerstören? Professor Armin Hatje, einer der führenden Europarechtler, – seit 2012 Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht – und einer der Gesamtherausgeber der 11.000 Seiten starken „Enzyklopädie Europarecht“ erklärt zwar im Gespräch mit Renate Müller De Paoli, dass „Das demokratische System der EU (...) mit ihrer geographischen und sachlichen Erweiterung nicht mitgewachsen“ sei, zeigt sich aber dennoch „optimistisch“ und sieht auf längere Sicht nur eine Lösung:

Professor Dr. Armin Hatje
Professor Dr. Armin Hatje

Herr Professor Hatje, es scheint fast, dass in Europa der Einigungsprozess auf der rechtlichen Ebene unkomplizierter und schneller voranschreitet, als es der Bürger seit einiger Zeit auf der politischen Ebene erlebt? Oder trügt hier der Schein?

Recht ist in weiten Teilen verbindliche Politik. Wo es politischen Konsens gibt, werden auch die entsprechenden Rechtsakte problemlos erlassen. Dies gilt vor allem für die wirtschaftliche Integration im Rahmen des Binnenmarktes. In den Medien kommt dieser Bereich allerdings nur selten vor. Daneben bestehen aber auch Konfliktzonen zwischen dem Integrationsprogramm der EU und dem politischen Willen der Mitgliedstaaten. Musterbeispiele sind die Währungsunion und die Einwanderungs- und Asylpolitik. In diesen Bereichen gestalten sich die Gesetzgebungsprozesse ungleich komplizierter. Auf diese Themen konzentrieren sich natürlich auch die Medien. Entsprechend konfliktreich nimmt der Bürger die Union wahr.

Wie entsteht „europäisches Recht“? Wie muss sich der Bürger diesen Entscheidungsprozess vorstellen? Welche Gremien sind beteiligt?

Die Gründungsverträge werden von den Mitgliedstaaten ausgehandelt und nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Bestimmungen gebilligt. In Deutschland müssen der Bundestag und der Bundesrat zustimmen. Das europäische Gesetzesrecht entsteht – von Ausnahmen abgesehen – aufgrund eines Vorschlags der Europäischen Kommission. Häufig liegen diesen Vorschlägen Anregungen der Wirtschaft, von Nichtregierungsorganisationen und der Mitgliedstaaten zugrunde. Es ist also keineswegs so, dass ein „Moloch“ in Brüssel sich diese Vorschläge allein ausdenkt. Der Kommissionsvorschlag wird im Regelfall vom Rat, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind, und dem Europäischen Parlament beraten und beschlossen. In diesem Verfahren können noch viele Änderungen vorgenommen werden. Der gesamte Entscheidungsprozess ist von intensiver Lobbyarbeit begleitet. Insofern entstehen europäische Rechtsnormen unter ähnlichen Bedingungen wie nationale Gesetze.

Aus Sicht der Wirtschaft liegen die Vorteile dieses Prozesses sicher auf der Hand, doch wie sieht es für den Bürger aus? Welche Vorteile hat er bisher durch die europäische Gesetzgebung gewonnen?

Die Ziele der Union sind Frieden, Freiheit, Wohlstand und außenpolitische Identität. Sie dienen vor allem dem Bürger, wem sonst? Konkret aber werden die Vorteile der Union in einem Raum der Freiheit spürbar, der von Sizilien bis in den hohen Norden reicht. Insbesondere die Unionsbürgerschaft gibt uns das Recht, in einem Land unserer Wahl zu leben. Die Grundfreiheiten vermitteln das Recht, in einem Land unserer Wahl zu arbeiten. Ferner werden die Vorteile in jedem Supermarkt deutlich, wenn man sich die Warenpalette und die Preise anschaut. Ohne den Binnenmarkt wäre das Angebot begrenzter oder zumindest teurer. Und schließlich sollte jeder einmal überlegen, welches Gewicht sein Heimatstaat in einer politischen Weltordnung hätte, die von Akteuren wie USA, China und Russland dominiert werden. Hier liegen Errungenschaften und Entwicklungspotentiale der EU.

Trotzdem wird Brüssel oft aber nur mit Vorschriften und „Überregulierung“ verbunden, wie die „berüchtigte“ Vorschrift über die Krümmung der Gurken …

Vorab: Der Krümmungsgrad der Gurken wurde auf Wunsch der Wirtschaft eingeführt. Die EU hat diese Vorschrift vor einiger Zeit wieder abgeschafft. Zur eigentlichen Frage: Viele Regelungen, die Laien merkwürdig erscheinen, harmonisieren nur vorhandene Vorschriften der Mitgliedstaaten. Dies gilt vor allem für den Bereich der technischen Normen. Andere Regelungen werden von den Mitgliedstaaten veranlasst, weil sie zu Hause keine Mehrheiten finden. Das „über die Bande spielen“ hat leider Tradition. Das sog. Glühbirnenverbot gehört wohl in diese Fallgruppe. Und schließlich sollte man die Eigendynamik der Kommission nicht unterschätzen. Auch sie will sich politisch profilieren. Insgesamt sind aber die meisten Regelungen der EU sehr sinnvoll und hilfreich für den Bürger. Dies gilt vor allem für den Binnenmarkt.

Wie sieht es mit der Einhaltung und Umsetzung dieser europäischen Rechtsnormen aus, insbesondere da in allen europäischen Ländern die Stimmung gegen Europa wächst und die nationalistischen Strömungen stärker werden?

Die Kommission veröffentlicht jährlich einen Bericht über die Befolgung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten. Hier zeigen sich die aktuellen Probleme. Sie müssen freilich vor dem Hintergrund der komplexen Struktur der EU gesehen werden. Das Unionsrecht muss in 28 Mitgliedstaaten von tausenden von Behörden und Gerichten angewendet werden. Über 500 Millionen Unionsbürger sind an das Unionsrecht gebunden. Hier gibt es natürlich „föderale Kosten“ des Rechtsgehorsams, wie wir sie auch aus Deutschland kennen. Welche Konsequenzen die teils negative Stimmung gegenüber der EU für die Rechtsbefolgung haben könnte, ist schwer zu sagen und dürfte vom Inhalt der fraglichen Regelung abhängen. Ganz ausschließen kann man sie aber nicht.

Europa steht offensichtlich am Scheideweg. Immer mehr Bürger sehen in Europa nur noch einen unliebsamen „Koloss“, der versucht, sie im Kleinen zu reglementieren, während in großen entscheidenden Fragen die Linie und Orientierung fehlt. Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern, um diesem Gefühl der „Ohnmacht“ und „Fremdbestimmtheit“ zu begegnen?

Das demokratische System der EU ist mit ihrer geographischen und sachlichen Erweiterung nicht mitgewachsen. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Der Unionsbürger hat keine Möglichkeit, auf europäischer Ebene für einen Regierungs- und damit für einen Politikwechsel zu sorgen. Mit Hilfe seines nationalen Wahlrechts kann er zwar über die nationale Regierung entscheiden, nicht aber über die anderen Regierungen, die im Europäischen Rat die politischen Geschicke der Union bestimmen. Mit der Wahl eines Europaabgeordneten entscheidet der Unionsbürger zwar über das Europäische Parlament. Jedoch hat das Europäische Parlament nur Einfluss auf die Kommission, die politisch dem europäischen Rat nachgeordnet ist. Damit laufen die Wahlrechte ins Leere. Die Lösung liegt auf längere Sicht in einer europäischen Regierung, gebildet aus der Kommission, die den Unionsbürgern verantwortlich ist und durch Wahlentscheidung abgelöst werden kann.

Herr Professor Hatje, welche Chance geben Sie diesem Europa, denn Töne, Zäune und Allianzen erinnern manchmal schon fatal an die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg?

Dieses Europa wird nur eine Chance haben, wenn es die Europäische Union als eine Errungenschaft begreift, die weiter entwickelt werden muss. Sie ist alles andere als perfekt, sie hat greifbare Mängel und ihr Personal ist manchmal nicht überzeugend. Welch eine Überraschung! Sie ist Menschenwerk. Aber es gibt gerade aus der Politik- und Rechtswissenschaft gute Vorschläge, welche weiteren Schritte zur Verbesserung notwendig sind. Deshalb bin ich optimistisch.


Herr Professor Hatje wir danken Ihnen.

Vita: Prof. Dr. Armin Hatje


1997-2006 Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Bielefeld und Vorstandsmitglied des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht;
seit Oktober 2006 Geschäftsführender Direktor der Abteilung Europarecht an der Universität Hamburg;
seit 2007 Direktor am Institute for European Integration am Europa-Kolleg in Hamburg;
seit 2009 Co-Chair des Master Committee der China –EU School of Law in Peking;
2009 - 2010 Koordinator des Konsortiums der China-EU School of Law, Peking;
seit 2012 Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht;
seit 2013 Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Europa-Kolleg Hamburg;
seit 2014 European Co-Dean der China-EU School of Law in Peking


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Montag, 18. April 2016

„Quo vadis Europa?“

Professor Dr. Armin Hatje im Interview

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