Prof. Dr. Cornelia Koppetsch im Interview

„Das Mitspielen enthält eine Mittäterschaft. Dessen muss man sich bewusst sein.“

Cornelia Koppetsch, Professorin am Institut für Sozialforschung der TU Darmstadt, sieht in Deutschland die Mittelschicht in Gefahr, sich selbst aufzuheben. Sie stützt diese These in ihrem Buch „Die Wiederkehr der Konformität – Streifzüge durch die gefährdete Mitte”, erschienen im Campus Verlag, u. a. auf den Überbietungswettbewerb der Mittelschichtsbürger um höhere Bildung und somit die von ihnen herbeigeführte Entwertung von Bildungsabschlüssen.

Eine andere Form der „Mittäterschaft“ sieht die Soziologin bei der Vermögensbildung. „Die Mittelschichtsbürger, die ein bisschen Vermögen haben und dieses, weil sie auf dem Sparbuch nichts mehr bekommen, an der Börse anlegen, sind mit dafür verantwortlich, dass viele Beschäftigungsverhältnisse prekäre werden und Arbeitnehmerrechte eingeschränkt werden.“, erklärt sie im Gespräch mit Renate Müller De Paoli:

Prof. Dr. Cornelia Koppetsch
Prof. Dr. Cornelia Koppetsch

Frau Prof. Koppetsch, bisher wurde die Mittelschicht gerade in der Bundesrepublik Deutschland als wichtigster Garant für Stabilität und Wohlstand gesehen, Sie hingegen sehen Erosionen. Woran machen Sie das fest?

Erosionserscheinungen lassen sich an ökonomischen wie auch kulturellen Veränderungen festmachen. In ökonomischer Hinsicht finden wir Stagnationserscheinungen: Es geht einfach nicht mehr nur bergauf. Viele Mittelschichtsbürger können trotz verstärkter Anstrengungen und „Leistungsverdichtung“ in Arbeit und Beruf gerade einmal ihren Status halten. Ihre Gehälter und Löhne stagnieren trotz höherer Arbeitsleistungen und Karriereanstrengungen. Darüber sind immer mehr Menschen Abstiegsrisiken ausgesetzt. Vor allem bei den freiberuflich Tätigen und Alleinselbständigen, im Banken- und Versicherungswesen und bei den Medien- und Kulturberufen häufen sich Einkommenseinbußen und Beschäftigungsrisiken. Und der Einsatz intelligenter Computerprogramme im Dienstleistungsgewerbe, in Freizeit und Konsum, hat insbesondere kundenorientierte Berufsfelder wegrationalisiert.

In kultureller Hinsicht lässt sich ein Klima der Entsolidarisierung beobachten: Da es nicht mehr für alle zu reichen scheint, werden Verlierer ausgegrenzt. Misserfolge, so die Meinung vieler, hat man sich in erster Linie selbst zuzuschreiben. Kaum mehr werden gesellschaftliche Spielregeln und die dahinter liegenden Interessen hinterfragt. Wer nicht mithalten kann, dem sind die Wege in die Kritik verbaut. In Freundeskreisen, und selbst in Familie und Paarbeziehung, zählt oftmals nur der Erfolg. „Jammerlappen“ werden eine Weile geduldet, doch irgendwann ausgegrenzt. Auch sind Verteilungskonflikte und Abgrenzungskämpfe gegenüber weniger privilegierten Gruppen härter geworden. Mittelschichtsbürger schimpfen nicht mehr auf die Eliten, sondern möchten am liebsten selbst dazu gehören. Ausgrenzungsmechanismen sind manchmal sehr subtil, insbesondere in den privilegierten sozialen Lagen. Hier findet sich das Muster der intentionslosen Exklusivität, des Ausschlusses ohne Anstrengung, einfach, indem man unter sich bleibt: In den Stadtteilen, den Schulen und den Freizeiteinrichtungen. Hier kann man sich Toleranz, etwa gegenüber Migranten, leisten, weil Toleranz nicht auf die Probe gestellt wird. Wer seine Kinder in exklusiven Bildungseinrichtungen oder Privatschulen unterrichten lässt und Eigentumswohnungen in teuren Stadtquartieren besitzt, hat naturgemäß weniger Probleme mit Migranten und kann sich zu Mitgefühl und Integration bekennen. Anders sieht es für diejenigen aus, die sich die hohen Mieten nicht leisten können und in Problemvierteln leben.

Woher rühren diese Ängste und Unsicherheiten gerade in dieser Schicht, die doch durch die Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte seit den 1960ern eine enorme Ausweitung gewonnen hat?

Ängste und Unsicherheiten rühren nicht nur von realen oder gefühlten Abstiegsmöglichkeiten, sondern auch von einer kulturellen Entwertung der Mittelschicht und ihrer einstigen Tugenden. Die Stärke der Mittelschicht in der alten BRD zeigte sich ja nicht nur im wachsenden Wohlstand und kollektiven Aufstieg, sondern auch in der erfolgreichen Durchsetzung einer „Kultur der Normalität“, einer Kultur der balancierten Lebensführung. Alles schien auf Normalität und Durchschnitt getrimmt – der Normallebenslauf, der Normarbeitstag und der Normalbürger. In den 1970er Jahren wurde die Normalität dann zu etwas, vor dessen Hintergrund soziale Abweichungen von Andersdenkenden als Fortschritt betrachtet und politisch eingefordert werden konnten. Gerade weil die Gesellschaft stabil war, erlaubte sie sich den ausgiebigen Protest gegen das Bestehende. Gerade weil Bescheidenheit und Normalität die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik prägten, wurden die Abweichung, die Herauslösung und das Ausbrechen aus dem Käfig der Normalität für viele erstrebenswert. Diese Situation spiegelte sich auch im politischen Parteienspektrum wider: „Rechts“ galt als konservativ, während die Linke auf Veränderung drängte.

Mit den wirtschaftlichen und politischen Veränderungen im Kontext der Globalisierung kehren sich nun diese Maßstäbe um. Die Kultur der Normalität und der Balance wird durch eine von offizieller Seite geförderte Kultur der Flexibilität und der Aktivierung abgelöst. Heute zählen „Eigenverantwortung“ und Initiative. Die Einzelnen sollen sich nicht länger selbstgenügsam im Bestehenden einrichten, sondern sich freiwillig dynamischen Entwicklungen anpassen. Da das moderne Berufsleben vielfach von unmessbaren Aktivitäten, wie z.B. „Auftreten“, Kreativität, Initiative oder Teamfähigkeit, beherrscht wird, die nicht mehr auf Leistungen basieren, zählt in vielen Bereichen nur noch der Erfolg. Dieser rechtfertigt oft jede Art von Einkommen, ist aber nicht notwendig an Disziplin und Fleiß gekoppelt. So zählt nicht mehr, wie viel Zeit und Mühe jemand in eine Arbeit investiert, sondern nur noch, ob die entsprechende Tätigkeit zum Ziel führt. Das alte Rahmenwerk der Leistungsgerechtigkeit gerät in Verruf. Wenn zunehmend nur noch das Ergebnis interessiert, unabhängig davon, wie es zustande gekommen ist, entsteht der Eindruck, dass man trotz harter Arbeit nicht vorankommt oder sogar auf die Verliererseite gerät.

Und: heute ist die kosmopolitische Linke mit ihren Werten der Kreativität und Nachhaltigkeit systemerhaltend und tonangebend, während die Rechten – etwa in Form populistischer Strömungen – den herrschenden Konsens in Frage stellen. Dies zeigt sich zum Beispiel in Fragen der Globalisierung aber auch in den jüngsten Debatten zur Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen.

Welche Rolle spielt dabei Deutschlands Aufbruch zum „Exportweltmeister“?

Deutschland wählte den Weg des Exportweltmeisters, um im internationalen Wettbewerb konkurrenzfähig zu bleiben. Es bietet hochwertige Produkte zu günstigen Preisen am Weltmarkt an. Dazu wurden Löhne gekürzt und Arbeitskräfte eingespart. In der Folge sinkt der Wohlstand für zahlreiche Arbeitnehmergruppen innerhalb des Landes trotz steigender Produktivität deutscher Unternehmen.

Zwar halten Medien und Politiker nach wie vor daran fest, dass das Bruttosozialprodukt unmittelbar etwas über den Wohlstand der Nation aussagt. Insgesamt ist die deutsche Wirtschaft tatsächlich erheblich produktiver als vor zwanzig oder dreißig Jahren, doch viele Bundesbürger bekommen nichts ab von diesem größer werdenden Kuchen. Die Haushaltseinkommen wachsen nicht mit der Produktivität, die realen Stundenlöhne stagnieren und sinken in vielen Branchen sogar. Gleichzeitig steigt die Zahl der atypischen, also der durch Sozialleistungen und Einkommen nicht mehr hinreichend gesicherten Beschäftigten. In den „Normalarbeitsverhältnissen“ werden ebenfalls Sozialleistungen wie Kündigungsschutz und Krankengeld zurückgeschraubt.

Unternehmen scheinen weitgehend das Interesse am Wohlergehen der Mittelschicht verloren zu haben. Damit ist kein böser, ja nicht einmal ein politischer Wille verbunden. Vielmehr hängen der unternehmerische Erfolg und die gesellschaftliche Prosperität objektiv nicht mehr so stark voneinander ab. Exportorientierte, deutsche Unternehmen sind nicht länger auf die Kaufkraft der Deutschen angewiesen, um große Profite zu erzielen. Andererseits werden Infrastruktur- und Bildungsvorzüge des eigenen Landes gerne genutzt, während Unternehmensteile in Länder mit niedrigeren Sozialstandards ausgelagert und dort billige Arbeitskräfte gesucht werden, um teure Sozialbeiträge einzusparen. Auf diese Weise geht es den Unternehmen immer besser, das Wohlstandsniveau der Mittelschichtsbürger bleibt aber gleich oder sinkt sogar.

Autonom sein, sein „eigenes Leben führen“ und kreativ sein, waren für die „1968er“ entscheidende Ziele. Sie sehen jetzt die „Schlüsselgruppe“ der „Kreativen“, der „ökonomischen Kulturvermittler“ in der „Vorreiterrolle für den neuen Geist des Kapitalismus“. Sie bezeichnen die „Kreativen“ als „Speerspitze des flexiblen Kapitalismus“ in der Kultur- und Medienökonomie. Gehen Sie nicht zu weit?

Die Kreativen fühlen sich frei. Doch zahlen sie dafür einen hohen Preis, nämlich den, in der Regel weniger zu verdienen und in unsicheren Verhältnissen zu arbeiten. Der Hype der Kreativberufe schafft auf Seiten der Arbeitgeber neue Möglichkeiten: Die Unternehmen können unattraktive Jobs nun als „kreativ“ ausgeben, weil man sie dadurch, also versehen mit dem Selbstverwirklichungsbonus, besser an den Mann oder die Frau bringen kann – und überdies mit weniger Sicherheiten und Gehältern ausstatten muss. In der Werbebranche kann man das sehr gut sehen: Den Gebrauchsgrafiker, der ursprünglich ein Handwerker war, tituliert man heute als Kreativen – und bezahlt ihn schlechter. Man flacht die Hierarchien ab, reduziert die Personalkosten und dünnt aus.

Da verzahnt sich das Ideal der künstlerischen Lebensführung mit den Spielregeln des Neoliberalismus. Das haben die französischen Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Éve Chiapello in ihrem Werk „Der neue Geist des Kapitalismus“ herausgearbeitet: Die einst gegenkulturell formulierten Ideale wie Autonomie, Emanzipation, Eigenverantwortung, Freiheit, Kreativität sind vom kapitalistischen Mainstream vereinnahmt worden. Sie enthalten kein Widerstandspotenzial mehr. So erkläre ich mir auch die Wiederkehr der Konformität, den Neokonservatismus: als Abwehr von neoliberalen Freiheitszumutungen. Kreativ zu sein und eigenverantwortlich zu handeln ist heute nicht mehr subversiv, sondern gehört zu den wichtigsten Tugenden qualifizierter Mitarbeiter. Diese Attribute sind auf die Seite des Kapitalismus gewandert. Deshalb sagen gerade jüngere Menschen jetzt: Wir möchten nicht mehr frei sein, wir möchten Tradition. Sicherheit. Etwas, das bleibt. Gesetze und Verbote. Das, was knapp ist, ist nicht die Freiheit, sondern die Sicherheit und die Geborgenheit. Manchmal führt dies zu regelrechten Abwehrreaktionen: Alles, was die 68er-Generation als Wert eingeführt hat – sexuelle Toleranz, Vielfalt, Befreiung –, wird verteufelt. Nicht nur bei den Rechten, vielfach auch in der sogenannten Mehrheitsklasse, im Mainstream der Bevölkerung.

(Copyright: Campus Verlag)

Sie sehen sogar eine enge Verzahnung zwischen dem „Alltagshandeln der Mittelschichtsbürger“ und der von ihnen viel kritisierten Globalisierung und dem viel beklagten „Terror der Ökonomie“. Warum?

Wir beobachten, dass viele besorgte Eltern zu immer aufwändigeren Mitteln greifen, um die Zukunft der Kinder zu sichern: Elitekindergärten, Privatschulen, Auslandsaufenthalte. Wenn immer mehr Menschen in immer höhere Bildung investieren, werden herkömmliche Bildungseinrichtungen und -zertifikate entwertet. Es findet ein Überbietungswettbewerb statt: Wir können auf so viele Lehrlinge zurückgreifen, wir nehmen jetzt nur noch die mit Abitur – dann landen Realschulabsolventen in ungelernten Jobs, und die Hauptschüler kriegen gar keinen. Alles rutscht eine Stufe tiefer, weil die Spitze immer exzellenter wird. Oder die Elite-Universitäten: Die Ehrgeizigen zieht es dorthin, die übrigen Universitäten werden zu zweitklassigen Bildungsanstalten herabgestuft. Nur: Die Berufsaussichten für den Einzelnen werden dabei nicht besser. Man muss ständig aufrüsten, hat aber am Ende nichts davon. Dennoch spielen alle mit und tragen dadurch dazu bei, dass Wettbewerbsstrukturen reproduziert werden. Das Mitspielen enthält eine Mittäterschaft. Dessen muss man sich bewusst sein.

Eine andere Form der Mittäterschaft besteht bei der Vermögensbildung. Die Mittelschichtsbürger, die ein bisschen Vermögen haben und dieses, weil sie auf dem Sparbuch nichts mehr bekommen, an der Börse anlegen, sind mit dafür verantwortlich, dass viele Beschäftigungsverhältnisse prekäre werden und Arbeitnehmerrechte eingeschränkt werden. Wenn Unternehmen in wachsendem Maße durch Aktionäre und Fondgesellschaften kontrolliert werden, orientieren sie sich häufig an kurzfristigen Gewinnmöglichkeiten und versuchen vor allem, die Kosten für Arbeit zu senken. Es ist für sie billiger, Arbeitnehmer befristet zu beschäftigen und beispielsweise Leiharbeiter einzustellen. So trägt jeder Shareholder zur Aushöhlung der Arbeitnehmerschaft bei.

Sozialforscher sehen einen Mentalitätswandel in Deutschland hin zur neuen „Bürgerlichkeit“. Sie selbst sprechen von der „Wiederkehr der Konformität“. Wie sieht diese Bürgerlichkeit von heute oder Konformität aus?

Die Sehnsucht nach Geborgenheit im Angesicht von Abstiegsängsten hat einen Mentalitätstypus hervorgebracht, der in meinem gleichnamigen Essay unter dem Topos „Wiederkehr der Konformität“ untersucht wird. Die Wiederkehr der Konformität findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Auf der Ebene der Wertvorstelllungen ist eine Abkehr von politischen Gesellschaftsentwürfen zugunsten von rückwärtsgewandten Gemeinschaftsbildern und religiösen Bekenntnissen zu beobachten. Viele Menschen tendieren zu einem Rückzug aus dem öffentlichen Leben in den Nahbereich von Partnerschaft und Familie. Konservative Werte dominieren, die auf die Erhaltung des Bestehenden oder des verloren Geglaubten gerichtet sind.

Auf der Ebene der Statuskämpfe überwiegt das Muster der Selbstabschließung durch Ausgrenzung. Dies geschieht je nach Milieuzugehörigkeit durch unterschiedliche Strategien. Während in den vom Abstieg bedrohten Soziallagen Ressentiments gegen Unterprivilegierte und Migranten offensiv vertreten werden, betreibt die bürgerliche Mitte ihre Selbstabschließung eleganter, indem sie sich in exklusive Stadtviertel zurückzieht. Dies erlaubt ihnen tolerant und liberal zu bleiben, denn die tatsächlichen gesellschaftlichen Problemlagen bleiben draußen. Die Teilhabe an Privilegien wird über den Preis pro Quadratmeter Wohnraum gesteuert.

Schließlich wird auch die Ebene des Alltagslebens von einer Haltung der Konformität beherrscht. Zwar betätigen sich viele Mittelstandsbürger als Alltagskritiker der Marktgesellschaft, doch hindert sie das nicht daran, sich an die gegebenen Bedingungen mitunter bedingungslos anzupassen. Widerstand erscheint vielen zwecklos. Für eine Benennung der wachsenden Ungerechtigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse in der Arbeitswelt fehlt überdies das Vokabular. Im offiziellen Diskurs werden sie als „fairer Wettbewerb“ ausgegeben, welcher ja bekanntlich Gewinner und Verlierer hervorbringt. Die Frage, welchen Interessen Wettbewerbe dienen, und nach welchen Spielregeln diese inszeniert werden, bleibt sorgfältig hinter den Sprachspielen der Leistungsgesellschaft verborgen. Wer hier nicht mithalten kann, dem sind die Wege in die Kritik verbaut. Denn seine Misserfolge hat sich jeder selbst zuzuschreiben. Dies spiegelt sich auch im öffentlichen Diskurs zu Erschöpfungskrankheiten, zu Burn-Out-Erkrankungen und Depressionen, wider. Nicht der Widerstand, sondern die Krankheit erscheint als letzter Ausweg.

Die Wiederkehr der Konformität ist allerdings nicht mit Feigheit zu verwechseln. Sie ist eine plausible Bewältigungsstrategie im Angesicht von Unsicherheiten und Ängsten. Sie ist eine Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen, die mit wachsenden Unsicherheiten und einem gravierenden Autonomieverlust in der Lebensführung einhergegangen sind. Dabei büßten nicht nur die Menschen an Autonomie ein, auch gesellschaftliche Institutionen verfügen über weniger Handlungsspielräume. Familie, Wohlfahrtsstaat und Demokratie mussten sich den Imperativen von Märkten wesentlich anpassen.

Die Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit trifft nun aber auf die „Flüchtigkeit sozialer Netzwerke“. Sie schreiben, die „globale Netzwerkgesellschaft führt nicht zur Aufhebung sondern Privatisierung von Abhängigkeit“. Was heißt das?

Je mehr sich das Leitbild des „flexiblen Menschen“, wie Richard Sennett dies dargestellt hat, durchsetzt, umso unverbindlicher gestalten sich im allgemeinen gesellschaftliche Beziehungen: Patienten, Klienten, selbst Studenten wechseln aus der zugestandenen Abhängigkeit in den neutralen Status des Kunden, der eine Leistung einkauft. Sie erhalten kaum mehr Schutz, sondern sollen nun selbst wissen, was gut für sie ist. Die losen Netzwerke und Projekte, die an die Stelle der alten Verbindlichkeiten treten, erzeugen keine milieuhafte Zugehörigkeit mehr, ihre Integrationskraft bleibt gering. Damit wächst die Bedeutung von Herkunft und Familie, die Sehnsucht nach Traditionen und Ritualen nimmt zu. Hierin äußert sich nicht nur ein „irrationaler“ Wunsch nach Sicherheit und festen Ordnungsgrößen, vielmehr handelt es sich um die konsequente Rückverwandlung wohlfahrtsstaatlicher Kollektivbindungen in traditionell-ständische Herkunftsbindungen.

Dabei zahlen meist vor allem soziale Aufsteiger den Preis der Flexibilisierung und Individualisierung der Lebensführung. Sie begingen „Verrat“ an den Werten und Institutionen ihres Herkunftsmilieus und erhalten nun die Quittung. Denn sobald sie sich in den locker gestrickten Netzwerken und Beziehungen verheddern oder beruflich scheitern, müssen sie mit den Konsequenzen ihrer mangelhaften Unterstützung und unzureichenden sozialen Absicherung leben. Die flexiblen Netze sind nur solange hilfreich, wie sie ermöglichen, von einem Projekt zum nächsten zu gelangen – sie haben den Status eines Kapitals. Doch wer sich in Notsituationen auf sie verlässt, merkt, wie leicht sie zurückweichen.

Globalisierung entlässt den Einzelnen somit nicht in größere Freiheit, sondern verweist ihn paradoxerweise verstärkt an seine Herkunftsbindungen und damit in die Abhängigkeit von Klasse und Stand zurück. Dies gilt insbesondere in finanzieller Hinsicht. Vermögende Eltern können ihre Kinder ein Leben lang unterstützen. Meist konzentrieren sich Vermögen in den ohnehin schon privilegierten Schichten, was soziale Ungleichheiten in der Kindergeneration beträchtlich vergrößert. Neben finanziellen Ressourcen (kann man sich den Privatkindergarten, den Tennisclub, die Privatuniversität leisten?) werden kulturelle Mitgiften (Bildungshintergrund, exklusive Netzwerke) und soziale Reputation wichtiger.

Was bedeutet dieser Prozess für die Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen?

Wir finden in den konkurrenzbestimmten, öffentlichen Lebensbereichen, das Primat der Außenlenkung. Das moderne Arbeitsethos konzentriert sich auf die Teamarbeit und propagiert sensibles Verhalten gegenüber anderen. Dies erfordert sogenannte „soft skills“ und Anpassungsfähigkeit an andere. Sachliche Autorität rückt demgegenüber oftmals in den Hintergrund, denn fachliche Kriterien sind meist zunehmend strittig geworden und bedürfen selbst der kommunikativen Vermittlung. Es geht nun darum, die Signale anderer richtig zu deuten und die Erwartungen und Wünsche der Anderen zur Steuerungsquelle des eigenen Verhaltens zu machen – ohne allerdings selbst in den Sog von Anerkennung Abhängigkeit zu geraten.

Akteure, die in den flexiblen Arbeitswelten erfolgreich sind, gelingt es zumeist, Beziehungen, Netzwerke und Emotionen für sich zu nutzen, ohne sich selbst zu binden. Sie können Abhängigkeiten vermeiden, indem sie andere abhängig machen. Sie demonstrieren Nähe und Vertrauen, ohne tatsächlich emotionale Verpflichtungen einzugehen. Die Erfolgreichen festigen ihren Status durch ihre Fähigkeit, viele Menschen für sich einzunehmen und Verbindungen zwischen ihnen zu knüpfen. Sie besitzen eine große emotionale Energie, bleiben aber auf Distanz. Sie begeistern, ohne begeistert zu sein, bezaubern, ohne selbst dem Zauber anderer zu erliegen. Sie erscheinen vertrauenswürdig, ohne anderen zu trauen.

Aus diesem Grund ist es für viele Menschen heute essentiell, Solidarität, Nähe und Bindung ausschließlich im engeren Freundes- und Familienkreis zu suchen. Dies verstärkt die oben skizzierte Tendenz zur Privatisierung von Bindekräften, Gemeinschaft und Zugehörigkeit.

Studien, wie z. B. die Shell-Studie bezeichnen die junge Generation als „pragmatische Generation“ und die Bezeichnung „Ego-Taktiker“ macht die Runde. Wo liegen die Ursachen für diese scheinbare Angepasstheit?

Repräsentative Untersuchungen, wie die Spiegelumfrage 2009, die Einstellungen und Orientierungen der 25- und 30-Jährigen ermittelte, und die Shell-Studie, die in Abständen von vier Jahren jeweils 2.500 Jugendliche in Deutschland befragt, zeichnen das Portrait einer „pragmatischen“ Generation. Obwohl sie die Zukunft der Gesellschaft, insbesondere den Arbeitsmarkt, durchaus kritisch einschätzen, stellen viele junge Erwachsene eine positive Haltung zur Schau, gepaart mit einer hohen Leistungsorientierung (Hurrelmann/Albert 2006: 39). Hinzu kommt: Junge Menschen, die heute erwachsen werden, empfinden sich nicht als geschlossene Generationseinheit. Sie verbindet kein Protestgefühl, keine Wortführer, keine Ideologie, keine gemeinsame politische Haltung. Sie sind nur Einzelne, die sich gleichen und dabei in Konkurrenz zueinander stehen.

Dennoch sind sie eine Generation im Sinne einer durch gemeinsame gesellschaftliche Bedingungen geformten Persönlichkeit: Sie sind die erste Generation, die mit dem globalen Kapitalismus aufwächst und für die Arbeit und Beruf, ja die gesamte Welt jenseits von Familie und Nahwelt, zu einem Ort der Unsicherheit und der subtilen Entfremdung geworden ist. Als junge Erwachsene verweilen sie über viele Jahre in Ausbildung, Praktika, Nebenjobs und befristeten Arbeitsverhältnissen ohne erkennbare Aussicht auf eine gefestigte Position im Erwerbsleben. Das unterscheidet sie wesentlich von den beiden Vorgängergenerationen – von der Generation der Neuen Sozialen Bewegungen, also der zwischen 1960 und 1969 in Westdeutschland Geborenen, und der APO-Generation, den zwischen 1949 und 1955 geborenen Westdeutschen, die maßgeblich durch die Studentenbewegung und die Ereignisse im Umfeld des Jahres 1968 geprägt wurden.

Heute wird an Beschäftigte aller Altersgruppen der Anspruch gestellt, flexibel und mobil zu sein, wobei sie gleichzeitig Sicherheiten verlieren. Doch das Risiko prekärer Beschäftigung ist bei jungen Menschen, vor allem bei Berufsanfängern, besonders hoch. Empirische Analysen zeigen, dass junge Erwachsene eher zu den Verlierern der Globalisierung von Ökonomie und Arbeit gehören (Blossfeld et al. 2006, 2007). Der Übergang von der Ausbildung in die Erwerbsarbeit gestaltet sich zunehmend aufwendiger, komplizierter und weniger gradlinig (Schlimbach 2010: 306).

Dies betrifft die Geringqualifizierten genauso wie die Hochschulabsolventen. Ob der Start in das Berufsleben für Letztere gelingt, hängt oft nicht mehr allein vom Bildungsabschluss, sondern zunehmend auch von den Ressourcen der Eltern ab. Dies ist ein Resultat der verlängerten Abhängigkeit der Berufseinsteiger von den Eltern (Austermann/Woischwill 2010: 280). Gerade in den jüngeren Altersgruppen nehmen befristete Beschäftigungen in Deutschland überdurchschnittlich zu. Zwischen 1997 und 2007 stieg der Anteil der 15- bis 24-Jährigen in Leiharbeit, Teilzeitarbeit, befristeter oder geringfügiger Beschäftigung von 19 auf 39 Prozent und in der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen von 17 auf 25 Prozent (Statistisches Bundesamt 2008). Die Zahl der Praktikanten mit Hochschulabschluss wächst. Trauen sich Praktikanten dennoch, um ein höheres Gehalt zu verhandeln, so sind manche Arbeitgeber dreist genug, auf die Unterstützung durch die Eltern zu verweisen (Austermann/Woischwill 2010: 280). Wer als junger Berufseinsteiger über kein stützendes Elternhaus verfügt, lebt häufig am Rande der Armut.

Als Folge dieser Entwicklungen hat sich die Lebensphase Jugend heute deutlich verlängert. Einerseits kommen Jugendliche immer früher in die Jugendphase hinein – die Pubertät beginnt bei den meisten schon mit zwölf Jahren – gleichzeitig schiebt sich der Zeitpunkt des Erwachsenwerdens weiter hinaus, insbesondere bei den Abiturienten und Hochschulabsolventen. Der verzögerte Berufseintritt führt dazu, dass junge Menschen länger bei den Eltern wohnen und die Familiengründung aufschieben. Die Jugendphase kann 15 oder mehr Jahre dauern. Eine Gewissheit, ob die jungen Menschen einen Beruf finden und eine Familie gründen können, also einmal die klassische Rolle der Erwachsenen einnehmen, gibt es dagegen nicht. Nach Klaus Hurrelmann führt das Leben in struktureller Unsicherheit zu opportunistischem Verhalten, zu einem nur auf die eigene Person bezogenem Optimierungsstreben. Jeder will seine Ausgangssituation verbessern und im richtigen Moment zugreifen. Entsprechend seien die jungen Leute von ihrem Sozialcharakter her „Ego-Taktiker“.

Viele junge Menschen haben in den letzten Wochen mit unglaublichem Engagement, Ideen und Zeiteinsatz versucht, die katastrophale Lage der zu uns strömenden Flüchtlinge zu lindern. Steht das nicht im Widerspruch zu ihrer Einschätzung? Oder relativiert dieser Realitätsschock des Leids der Flüchtlinge die eigenen Ängste und lockt den Stachel des Widerstands?

Ja, das zeigt, dass Solidarität im öffentlichen Raum wieder möglich geworden ist und auch praktiziert wird. Möglicherweise ist die Hochphase der neoliberalen „Ego-Taktiker“ ja schon vorbei. Allerdings ist auch Skepsis geboten, denn die Hilfsbereitschaft kann schnell erlahmen, wenn die mittel- und langfristigen Probleme der Integration ans Licht kommen.

Das Engagement für die Flüchtlinge darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gravierende Spaltungen gibt zwischen den Helfern, die meist eher aus den privilegierten Lagen der Mittelschicht stammen, die sich kosmopolitisch geben und eher zu den Befürwortern der Globalisierung gezählt werden können, und den traditionsbewussten Menschen, die territorial gebunden sind und auf traditionell-ständische Rückfallpositionen Herkunftsbindungen besonders angewiesen sind. Letztere empfinden die Zunahme von Migranten als eine Bedrohung ihrer angestammten Privilegien und ihrer vermeintlichen Territorialrechte, während erstere von den negativen Auswirkungen meist nicht betroffen sind. Während die Kosmopoliten immer über Optionen und territoriale Ausweichmöglichkeiten verfügen und auch in beruflicher Hinsicht keine Gehalts- und Lohnkonkurrenzen seitens der Migranten fürchten müssen, gilt dies für die heimatverbundenen Traditionalisten in geringerem Maße. Deshalb sind viele gerade der traditionsverbundenen Menschen, etwa in Ostdeutschland, gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen skeptisch eingestellt. Wer diese Meinungen unterdrückt provoziert das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen. Es hilft aus meiner Sicht nicht weiter, die Skeptiker der Integration moralisch zu disqualifizieren und sie in die Nazi-Ecke zu stellen. Auch hier zeigt sich meines Erachtens der Rückzug politischer Gesellschaftsentwürfe. An die Stelle politischer Auseinandersetzungen um gesellschaftlich strittige Fragen treten moralische Gesinnungen, an die Stelle von links und rechts tritt die Unterscheidung von gut und böse.


Frau Prof. Koppetsch, wir danken Ihnen.

1: So zeigt sich, dass die obersten 5 Prozent das reichste Zehntel 2007 über 46 Prozent des gesamten Vermögens verfügen, während mehr als zwei Drittel der Gesamtbevölkerung kein oder nur ein sehr geringes Nettovermögen besitzen. Die Ungleichverteilung hat in den letzten Jahren nochmals zugenommen (Frick/Grabka 2009: 59). Vgl. auch (Szydlik/Schupp 2004; Kohli 2007).

2: Die Vererbung von Vermögen ist bereits zu einer Massenrealität geworden. Laut Alters-Survey hatten bis zum Befragungszeitpunkt 1996 immerhin 44 Prozent der 40- bis 85-Jährigen bereits etwas geerbt, und zwar überwiegend von den (Schwieger-)Eltern. Die meisten Nachlässe haben einen kleinen bis mittleren Umfang. Knapp ein Fünftel der Erbschaften hat einen Wert von weniger als 2.556 Euro, drei Viertel liegen unter 51.129 Euro und nur knapp 2 Prozent übersteigen 511.292 Euro (Kohli 2007: 62f.).

Vita: Prof. Dr. Cornelia Koppetsch


Cornelia Koppetsch ist Soziologin und Professorin für Geschlechterverhältnisse, Bildung und Lebensführung an der TU Darmstadt. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Bildung und Beruf, Sozialer Wandel, Ökonomie und Lebensführung, Familie, Geschlechterverhältnisse und Sozialstruktur.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Freitag, 9. Oktober 2015

"Das Mitspielen enthält eine Mittäterschaft."

Soziologin Prof. Dr. Cornelia Koppetsch im Interview

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