„Ich eile, also bin ich"

Prof. Dr. Verena Begemann, Dipl. Sozialarbeiterin im Interview

„Ich eile, also bin ich“ ein Schlagwort, das sich zum „identitätsstiftenden Muster des modernen Menschen“ entwickelt und alle Lebensbereiche erfasst hat, erklärt Verena Begemann, Professorin für Ethik und Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Hannover. Im Gespräch mit Renate Müller De Paoli über die Herausforderung des Älterwerdens und Altseins wünscht sie sich „in unserer Multioptionsgesellschaft“ mehr Mut und „Stehen“ zum Alter. Und sie fordert eine neue Kultur des Helfens. Eine Kultur, die der Einsicht folgt, „dass ein gutes Leben, das wir alle wollen, auch von einer lebensdienlichen und lebendigen Zeitkultur abhängig ist, die durch Arbeits- und Eigenzeiten, Rhythmus und das Erleben von Langsamkeit und Freilassen von Zeiträumen gekennzeichnet ist.“

Prof. Dr. Verena Begemann
Prof. Dr. Verena Begemann

Frau Professor Begemann vor nunmehr 50 Jahren traten die Beatles mit Ihrem Song „When I’m sixty-four“ an die Öffentlichkeit.
Für die heutige Zeit ein erstaunlicher, höchst aktueller Songtext:

„Will you still need me, Will you still feed me, When I’m sixty-four“

Sicher würden sie heute nicht mehr über 64 sondern eher 74, 84 oder 94 Lebensjahre singen. Nach Ihrer langjährigen Erfahrung wie würde die Mehrheit unserer Gesellschaft heute antworten?

Die Lebensphase Alter ist heute sehr differenziert. Die soziologische Klassifizierung bezeichnet die 60-75-jährigen als „junge Alten“, die 75-90-jährigen sind schlicht „die Alten“ und die 90-100-jährigen werden als „Hochbetagte“ definiert. Das individuelle und gesellschaftliche Altersbild der 60-75-jährigen unterscheidet sich maßgeblich von dem der Hochbetagten. Die jungen Alten haben das Gefühl „mitten im Leben“ zu stehen und für Kinder, Enkelkinder, Nachbarschaft und Bürgergesellschaft ein attraktives Mitglied zu sein. Immerhin engagieren sich 34% der über 65-jährigen bürgerschaftlich und sind eine wichtige Säule der Zivilgesellschaft. Diese Zahl ist abhängig von einem guten Bildungsniveau, materieller Absicherung und einem guten Gesundheitszustand. Die größten Bereiche des bürgerschaftlichen Engagements sind: 1. Sport und Bewegung, 2. Schule und Kindergarten, 3. Sozialer Bereich, 4. kirchlich religiöser Bereich.
[Weitere Informationen sind dazu im aktuellen Freiwilligensurvey von 2014 nachzulesen:
https://www.bmfsfj.de/blob/113702/53d7fdc57ed97e4124fffec0ef5562a1/vierter-freiwilligensurvey-monitor-data.pdf]
Mit zunehmenden Jahren ist aber wahrzunehmen, dass es eine große, umgreifende Angst gibt, nicht mehr gebraucht zu werden, abhängig zu werden oder für Mitmenschen und Angehörige zur Beschwernis und Last zu werden. Dieses müssen wir auf dem Hintergrund einer hochdifferenzierten Selbstbestimmung wahrnehmen. In unserer Multioptionsgesellschaft sind wir täglich zu selbstbestimmten Entscheidungen herausgefordert. Wir wollen und wir müssen unser Leben selbstbestimmt führen und gestalten. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass wir nie vollkommen frei sind, sondern immer durch unsere Mitmenschen, Situationen und Lebensumstände sowie Schicksalsschläge mitbestimmt werden. Wir leben in gegenseitiger Abhängigkeit und sind aufeinander bezogen in unserer Lebensführung. Das machen wir uns zu selten bewusst und es wäre für das gelingende Alter(n) wünschenswert, wenn wir das neu entdecken und darin auch einen Sinn und Gewinn sehen könnten.

Zeigt sich in der Weigerung, die verschiedenen Seiten des Älterwerdens und Alt seins zu sehen, zu akzeptieren und fürsorglich zu verantworten, nicht nur das andere Gesicht eines modernen wirtschaftlich reichen Industriestaates, einer Gesellschaft, die seit Jahrzehnten auf Effizienz- und Gewinnmaximierung gepolt ist?

Älterwerden und Sterben sind nicht kompatibel mit einer fortschrittlichen Gesellschaft, die sich der Gewinnmaximierung verschrieben hat. Im hohen Alter und im Sterbeprozess machen wir Grenzerfahrungen mit unserer Machbarkeit und Gestaltungsfähigkeit. Es gehört zu unserem Menschsein, dass wir begrenzte Wesen sind und mit Grenzen umzugehen haben. Das passt jedoch nicht zur aktuell herrschenden Marktlogik mit hoher Beschleunigungsdynamik. Unsere Ökonomie ist an vielen Stellen weder lebens- noch menschendienlich. Wir beuten uns selbst und unsere Mitmenschen aus, wenn ich an Burnout und Lohndumping denke. Ebenso zerstörerisch wie wir mit uns selbst umgehen, gehen wir auch mit unserer Umwelt um. Über die Zusammenhänge der Ressourcenausbeutung wissen wir viel, aber wir handeln wider besseres Wissen.
Ich denke, dass auch unser Umgang mit dem Älterwerden ein Spiegel unseres Zeitgeistes ist. Auch hier denken wir an ein aktives, produktives und nützliches Altern. Darauf lässt sich unser Leben aber – glücklicherweise – nicht reduzieren. Zum Leben gehört Aktivität und Passivität, Lust und Leid, Alter und Jugend, Erfahrung und Innovation. Wir brauchen ein Umdenken hin zu mehr Sorge und Verantwortung und müssen uns die ethische Frage stellen: „In welchen Zusammenhängen lässt sich gut leben, altwerden und sterben?“ Diese Frage können wir uns nur gemeinsam, in unseren sozialen Kontexten beantworten. Ich versuche das an der Hochschule durch intergenerationelle Gesprächs- und Seminarkontexte sowie durch unser Projektstudium „Mut zum Alter - Verletzlichkeiten und Potenziale“. Im Projektstudium begegnen die jungen Menschen den vielfältigen Facetten des Alters und es finden intergenerationelle Begegnungen statt, von denen beide Seiten profitieren und voneinander lernen. Wir müssen an vielen Stellen wieder neu lernen, wie Jung und Alt zusammen leben, arbeiten, sich engagieren können, um ein fürsorgliches und verantwortliches Zusammenleben zu gestalten.In Hannover gibt es jährlich die „Lange Tafel des Generationendialogs“, die vom Studentenwerk organisiert wird und an der ich mit Studierenden teilnehme. Hier ergeben sich interessante Gespräche zwischen Senioren und Studierenden und beide Seiten fühlen sich beschenkt und inspiriert. Zugleich habe ich zunehmend den Eindruck, dass es uns allen gut tun würde, wenn wir zu unserem Älterwerden und zum Altern stehen können. Dafür müssen wir es jedoch positiv wahrnehmen und uns daran freuen, dass wir nicht jung gestorben sind, sondern unseren 60., 70. oder 80. Geburtstag feiern können.

„Einen alten Baum verpflanzt man nicht!“ sagt der Volksmund. Die Mehrheit der älteren Menschen möchte auch heute weder im Krankenhaus noch im Heim sondern in den „eigenen vier Wänden“ sterben. Ein Wunsch, der allerdings nur etwa 30 % erfüllt wird. Ist hier nicht ein fundamentales Umdenken von Angehörigen, Gesellschaft und Politik gefordert?

Ich möchte die Sterbeorte noch ein wenig differenzieren. Nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin sind folgende Zahlen realistisch: 2-3% sterben im Hospiz; 3-4% sterben auf der Palliativstation; ca. 20% sterben im Pflegeheim; 25% sterben zu Hause und ca. 50% sterben im Krankenhaus.
Ein hochdynamischer, flexibilisierter Lebensstil mit zunehmender Mobilität sowie tiefgreifende Veränderungen unserer Familienstrukturen lassen mich sehr vorsichtig in der Beantwortung der Frage sein. Ich denke, es wäre klug frühzeitig, also mit 55-60 Jahren, darüber nachzudenken, wie und mit welchen Menschen ich meine letzten Lebensjahre verbringen möchte und dann auch zu überlegen, welche Formen der gegenseitigen Unterstützung es hier geben kann. Ich denke hier an Mehrgenerationenhäuser, Wohngemeinschaften, Nachbarschaftshilfen, Freundschaften in der regionalen Nähe. Zugleich verweise ich auf eine Studie von 2012 des DHPV zum Thema: „Sterben in Deutschland – Wissen und Einstellungen zum Sterben“, die mich ermutigt und uns deutlich vor Augen führt, dass wir zu unseren primären sozialen Netzwerken ein gutes Versorgungsnetz von Hospiz, Palliativpflege und -medizin sowie Gemeinwesenarbeit, zu der auch die Gemeinwesendiakonie gehört, benötigen.
„90 % der Befragten und immerhin 76 % der allein lebenden Menschen haben geantwortet, dass sich jemand aus ihrer Familie, ihrem Freundeskreis oder aus der Nachbarschaft um sie kümmert, wenn sie krank sind. 72 % aller Befragten sowie 66 % der 60-jährigen und älteren Befragten gehen davon aus, dass sich jemand aus Familie, Freundeskreis oder Nachbarschaft um sie kümmern wird, wenn Pflegebedürftigkeit vorliegt. Dies spiegelt das Vertrauen der Bevölkerung wieder, das die Befragten in ihr persönliches Netzwerk haben. Gleichwohl wissen wir, dass schwerstkranke und sterbende Menschen ein hohes Maß an Betreuung und Pflege bedürfen, das in der Regel nicht ausschließlich vom persönlichen Umfeld der Betroffenen geleistet werden kann. Dem persönlichen Netzwerk muss ein gut ausgebautes Versorgungs- und Betreuungsnetzwerk zur Seite gestellt werden, das im engen Austausch mit Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft den Menschen in seiner letzten Lebensphase begleitet und die Wünsche und Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt.

Klaus Dörner, bekannt für sein großes Engagement und Reformwillen für ein Leben in Würde auch im Alter, fordert seit Jahren die „Deinstitutionalisierung von Altenpflegeheimen“. Sein Konzept: „das Heim (was hilfreich daran ist) in die Wohnung holen“. Er fordert eine „Normalisierung des Helfens: nicht mehr den Menschen zur Hilfe bringen, sondern wieder die Hilfe zum Menschen bringen!“ Verbirgt sich hinter der Diskussion um sogenannte „Quartierszentren“ eine ähnliche Idee?

Die Quartiersentwicklung bietet wertvolle und nachhaltige Ansätze, um das Älterwerden in gewohntem Umfeld zu gestalten. Studierende unserer Hochschule beteiligen sich in ihrem zweisemestrigen Projektstudium in Kooperation mit dem kommunalen Seniorenservice der Stadt Hannover an einer alter(n)s-gerechten Quartiersentwicklung. Ich skizziere kurz: Die soziale Vernetzung und Förderung aktiver Nachbarschaft stehen im Mittelpunkt. Menschen sollen auch im steigenden Alter und bei erhöhtem Hilfebedarf die Möglichkeiten erhalten in gewohnter Umgebung die sozialen Beziehungen weiterhin selbständig zu erhalten. Die Kommune blickt auf vier Handlungsfelder: Wohnen, Nahversorgung, bürgerschaftliches Engagement und Teilhabe, Generationendialog. So bieten z.B. Ideenwerkstätten eine Möglichkeit zunächst die Bedarfe und Bedürfnisse von Bürgerinnen und Bürgern vor Ort zu ermitteln. Arbeitsgruppen und Koordinierungskreise und Planungsrunden setzen auf eine hohe Partizipation und Selbstbestimmung von Bürgerinnen und Bürgern. Es gibt professionelle Quartierskoordinator*innen, die präsent sind, ein Büro in einem Stadtteil haben, Beratung und offene Sprechstunden anbieten und das bürgerschaftliche Engagement fördern und Ideen verwirklichen. Im Quartier Hannover-Südstadt gibt es z.B. das Projekt „Von Nachbar*in zu Nachbar*in“. Ziel ist es, Begegnungsmöglichkeiten und regelmäßigen Austausch von Nachbarn zu schaffen, die sich in Kleingruppen oder Tandems unterstützen. So sucht jemand z.B. eine Einkaufshilfe und bietet dafür an, für zwei zu kochen. Es geht in diesem Projekt darum, eine Bedarfsanalyse zu erstellen und dann einen leichten Zugang für Interessierte zu erarbeiten. Fähigkeiten und Möglichkeiten der Teilnehmenden sollen gefunden und die Interessen und Bedarfe der einzelnen Nachbar*innen sichtbar werden.
Ich denke, dass diese Ansätze ein großes Potenzial in sich tragen, um das Miteinander in einem Stadtteil oder Quartier und damit auch die Lebensqualität zu erhöhen. Es geht ja darum, wieder eine lebendige Nachbarschaft zu entwickeln, den anderen wieder wahrzunehmen und im Blick zu haben. Das haben wir in den letzten Jahrzehnten zu sehr vernachlässigt und müssen es jetzt wieder neu lernen und uns miteinander auf den Weg machen und uns wieder in die Augen schauen.

Welche zusätzlichen Möglichkeiten sehen Sie innerhalb der Gesellschaft weitere Kräfte zu mobilisieren, um „wieder die Hilfe zum Menschen zu bringen“, d. h. doch vor allem auch das Gefühl und Wissen als älterer oder chronisch kranker Mensch gebraucht zu werden und eine Bedeutung für „Andere“ zu haben?

Es geht darum alte, chronisch kranke Menschen in ihrem Reichtum an Erfahrung und als Schatz zu begreifen. Aber das können wir nur, wenn wir es wagen, uns von anderen berühren zu lassen. Dazu ist es so wichtig, dass ich mit meiner eigenen Schwäche, Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit ins Gespür komme. Das ist weder effektiv noch attraktiv, aber notwendig für ein würdiges Leben. Wir müssen wieder neu lernen, uns den eigenen Fragen, Zweifeln und Wunden des Lebens zu stellen. Dafür brauchen wir Begegnungen, die für Seele und Geist heilsam sind und uns aufatmen lassen. Lassen Sie mich auf Ihre Frage mit einem Zitat des französischen Philosophen Paul Ricoeur (1913-2005) antworten, in dem deutlich wird, dass vom Leidenden ein Geben ausgeht: „In der wahren Sympathie findet das Selbst, dessen Handlungsvermögen anfangs größer ist als das seines Anderen, sich von all dem berührt, was der leidende Andere ihm im Gegenzug anbietet. Denn vom leidenden Anderen geht ein Geben aus, das eben nicht mehr aus seinem Vermögen zu handeln und zu existieren schöpft, sondern aus seiner Schwachheit selber. Dies ist vielleicht die größte Prüfung der Fürsorge: Die Ungleichheit der Vermögen kann durch eine authentische Reziprozität im Austausch kompensiert werden, die sich in der Stunde des Todeskampfes in ein gemeinsames Murmeln der Stimmen oder einen kraftlosen Händedruck flüchtet […] Ein an der Verletzlichkeit seiner Sterblichkeit erinnertes Selbst kann von der Schwachheit des Freundes mehr empfangen, als es ihm gibt, indem es aus seinen eigenen Kraftreserven schöpft“ (Ricoeur, Das Selbst als ein Anderer, 2005).
Auf der strukturellen Ebene ist eine Weiterentwicklung der Hospiz- und Palliativkultur in unseren Alten- und Pflegeheimen angezeigt. Hier gibt es bereits gute Ansätze, die sicher noch zu verbessern und zu intensivieren sind. Es ist eine Sorgekultur notwendig, die von Haupt- und Ehrenamtlichen gemeinsam getragen wird. Dafür ist Personal überlebensnotwendig, das gut bezahlt wird, denn bei dem jetzigen Pflegenotstand ist den Fachkräften nicht noch mehr aufzubürden. Viele der professionell Tätigen in Alten- und Pflegeheimen gehen bis an ihre Belastungsgrenze und darüber hinaus. Diese Notwendigkeiten müssen wir lauter und stärker in die politische Diskussion einbringen. Ich sehe hier gute Möglichkeiten, dass ambulante Hospizvereine, stationäre Pflegeheime sowie Lehrende und Studierende unserer Fakultät zusammenarbeiten könnten. Es geht doch darum, dass wir miteinander ins Gespräch kommen, um strukturelle Bedingungen zu verbessern, gegenseitig von unserem spezifischen Fachwissen zu profitieren und an persönlichen und professionellen Haltungen zu arbeiten, die für unser Menschsein am Lebensende wohltuend sind.

Müsste sich nicht eine neue Kultur des Helfens und eine andere Gewichtung des Faktors „Zeit“ entwickeln, sodass der „soziale Schmerz“, von dem Sie sprechen, weil Gesellschaft und Politik den „Verletzlichkeiten des Alterns nicht die notwendigen personellen und materiellen Ressourcen zur Verfügung stellt“, gelindert wird?

Die Erfahrung des sozialen Schmerzes ist oft auch ein Schmerz über die herrschende Zeitnot. Das Schlagwort "Ich eile, also bin ich" ist das identitätsstiftende Muster des modernen Menschen. Dabei bezieht sich die Beschleunigung nicht nur auf die durch schnelle Fortbewegungsmittel mögliche Mobilität von Menschen. Das maximal mögliche Tempo erfasst alle Lebensbereiche. Der Soziologe Hartmut Rosa hat die Triebkräfte der Beschleunigung in seinem Buch „Beschleunigung“ umfassend beschrieben. In seinem Modell des Akzelerationszirkels wird deutlich, dass technische Beschleunigung zur Beschleunigung des sozialen Wandels führt und damit auch tiefe Auswirkungen auf das individuelle Lebenstempo hat. Wir kommen aus dieser Beschleunigungsspirale leider nicht heraus und brauchen dennoch dringend ein Bewusstsein dafür, dass durch die Gleichung „Zeit ist Geld“ unser Leben verarmt. Inmitten der Beschleunigung brauchen wir Resonanzräume, wie Hartmut Rosa sagt, um jenseits aller Rollen dem anderen wieder als Mitmensch begegnen zu können. Eine neue Kultur des Helfens braucht die Einsicht, dass ein gutes Leben, das wir alle wollen, auch von einer lebensdienlichen und lebendigen Zeitkultur abhängig ist, die durch Arbeits- und Eigenzeiten, Rhythmus und das Erleben von Langsamkeit und Freilassen von Zeiträumen gekennzeichnet ist. In meiner eigenen Studie zu Haltungen von professionellen und ehrenamtlichen Hospizmitarbeiter*innen konnte ich häufiger wahrnehmen, dass die Zeit am Sterbebett für die Begleiterinnen eine wertvolle und kostbare Zeit war. Sie fühlten sich beschenkt und es war auch für sie eine Möglichkeit innezuhalten und ins Gespür mit sich und dem/der Anderen zu kommen.
Ein Zitat einer ehrenamtlichen Hospizmitarbeiterin aus unserer aktuellen Studie zur nachhaltigen Qualifizierung des Ehrenamtes in der Hospizarbeit von 2015 verdeutlicht noch einmal die Relevanz von Zeit: „Er wollte dem Sterben davon laufen, er war so unruhig; er konnte eigentlich nicht mehr stehen, wollte aber immer wieder hoch; hat stundenlang gekämpft, […] nach Stunden wurde er ruhiger, bin dabei geblieben, aber dieser Kampf hat mich aufgerührt.“ Hier geht es doch darum, dass Menschen begleiten, sich einlassen, aushalten, mittragen und dafür brauchen wir Zeit!
Und ganz wichtig: wir müssen unbedingt die Arbeitszeit unserer professionellen Kräfte in Pflege, Diakonie und Sozialarbeit deutlich besser vergüten, damit Menschen am Ende ihres Lebens von Menschen versorgt und gepflegt werden, die es sich leisten können zu sagen: „Ich habe Zeit für Sie und bin da.“ Das wäre Ausdruck von Lebens- und Versorgungsqualität und sollte von modernen Qualitätsmanagementsystemen erfasst werden.

Was können wir dem Verdrängen, Verneinen und Tabuisieren von Kranksein, Älterwerden und Altsein, von Schmerz, Leid und Tod entgegensetzen? Wie können wir unsere „kindliche Unbefangenheit“ auch im Umgang mit dem Tod zurückgewinnen wie es z. B. Wolf Erlbruch in dem wundervollen Bilderbuch „Ente, Tod und Tulpe“ zeigt: Erst als die Ente älter und schwächer wird, bemerkt sie den Tod, ihren leichtfüßigen Begleiter: "Wer bist du - und was schleichst du hinter mir her?" "Schön, dass du mich endlich bemerkst", sagte der Tod. "Ich bin der Tod." Die Ente erschrak. "Und jetzt kommst du mich holen?" "Ich bin schon in deiner Nähe, solange du lebst - nur für den Fall." "Für den Fall?" fragte die Ente. "Na, falls dir etwas zustößt. Ein schlimmer Schnupfen, ein Unfall, man weiß nie."

Die bürgerschaftliche Hospizbewegung, und damit Frauen und Männer, die ihre Zeit mit schwerstkranken, sterbenden und trauernden Menschen solidarisch teilen, haben uns geholfen, unser Bewusstsein dafür zu revitalisieren, dass wir alle sterblich und vergänglich sind. Sicher verdrängen wir die Endlichkeit immer noch, aber ich nehme wahr, dass es hier in den letzten 25 Jahren doch sehr viel gesellschaftlichen Wandel gegeben hat. Der Deutsche Hospiz- und Palliativverband hat 2017 sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert. Hier ist wirklich viel geschehen. Ambulante, stationäre Hospize sowie Palliativstationen und Palliativteams in Akutkrankenhäusern sind entstanden. Auch die Kinder- und Jugendhospizarbeit hat sich als differenziertes Versorgungssystem entwickelt und etabliert. Zugleich sehe ich natürlich, dass es uns schwerfällt Alter, Leiden, Sterben und Trauer im Leben anzunehmen und uns damit auseinanderzusetzen. Das schöne Kinderbuch „Ente, Tod und Tulpe“ bietet da viele Anregungen. Den Film dazu nutze ich gerne in meinen Seminaren an der Hochschule Hannover, wenn ich mit jungen Studierenden in meinem Seminar „Sterben und Tod. Trauer und Leben“ im Rahmen unserer Ethikmodule arbeite. Es geht darum, über unsere Fragen, Nöte und Hoffnungen unseres Lebens angesichts der Endlichkeit ins Gespräch zu kommen. Begegnung und Gespräch angesichts unserer Bedürftigkeit und Verletzlichkeit erscheinen mir überlebensnotwendig in einer leistungsstarken und beschleunigten Gesellschaft. Die Philosophie der Lebenskunst oder die christliche Ethik fragen doch gerade nach Lebensprioritäten angesichts des Todes. Am Ende unseres Lebens werden wir nicht bedauern, dass wir nicht noch mehr Überstunden gemacht haben, wohl aber, dass wir uns nicht mehr Zeit für die Liebe, für Freundschaften, für die Muße und das fröhliche Dasein genommen haben. Es wäre eine schöne Übung der Lebenskunst, wenn wir uns beim Spaziergang im Alltag vorstellen, dass uns der Tod ein Stück begleitet. Dann können wir uns fragen: Was will ich angesichts des Todes verwirklichen? Welche Spuren möchte ich hinterlassen? Mit welchen Menschen möchte ich meine Lebenszeit verbringen? Welche Werte und Haltungen prägen mich als Persönlichkeit?
Philosophie und Theologie geben uns viele Anregungen. Seneca schreibt eindrücklich in seinem Buch „Von der Kürze des Lebens“: Sei täglich darauf bedacht, mit Gleichmut das Leben zu verlassen. Und die biblische Weisheitsliteratur, hier Psalm 90 ermutigt uns: Herr, lehre mich meine Tage zu zählen, auf dass ich ein weises Herz gewinne. Es geht darum, dem Tod einen Platz in unserem Leben zu geben und in einer Haltung der engagierten Gelassenheit und Abschiedlichkeit das eigene Leben zu gestalten. Die schweizerische Sterbeforscherin Monika Renz, die ähnlich wie die Hospizpionierin Elisabeth Kübler-Ross viele Interviews mit Sterbenden durchgeführt hat, mahnt zu Recht an: „Weichen wir dem Leiden aus, verlieren wir in der Folge einen Teil unserer Empfänglichkeit für Beziehungen, Sinneswahrnehmungen, Emotionen, Spiritualität.“


Frau Prof. Begemann, wir danken Ihnen.

Vita: Prof. Dr. Verena Begemann


Verena Begemann, Dipl. Sozialpädagogin/-arbeiterin, geb. 1971, ist Professorin für Ethik und Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Hannover, Fakultät für Diakonie, Gesundheit und Soziales. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Westfälischen Wilhelms Universität Münster im Bereich „Studium im Alter“ mit Schwerpunkt Bürgerschaftliches Engagement in Wissenschaft und Praxis. Praktische Erfahrungen sammelte sie als Hospizkoordinatorin in ambulanten und stationären Kontexten. Promotion 2006 mit der Arbeit „Hospiz – Lehr- und Lernort des Lebens“.
Arbeits- und Forschungsschwerpunkte: Ethik in der Sozialen Arbeit, Ethosbildung für ein gelingendes Leben, ethische Entscheidungsfindung, Profilbildung und Qualifizierung im bürgerschaftlichen Engagement, curriculare Implementierung von Themen der Hospizarbeit und Palliative Care.
Ihre besonderen Anliegen sind die gute Zusammenarbeit von Haupt- und Ehrenamtlichen in der Hospizarbeit und Palliativversorgung, gute Vernetzungen zwischen Wissenschaft und Praxis sowie die curriculare Implementierung von Hospizthemen an Fachhochschulen, Universitäten und anderen schulischen Kontexten.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Donnerstag, 9. November 2017

"Ich eile, also bin ich"

Prof. Dr. Verena Begemann, Dipl. Sozialarbeiterin im Interview

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