Hic sunt leones - Hier sind die Löwen

Eine Buchbesprechung von Paolo Raimondi,
Präsident der Organisation "Diritti Civili - Nuova Frontiera", Rom

Ich hatte kürzlich die Gelegenheit, meinen lieben alten Freund Pater Giulio Albanese in seinem neuen Haus in Fiuggi, dem bekannten Badeort 70 km südlich von Rom, zu besuchen. Ich traf ihn in einem kurzen Moment der Ruhe zwischen seinen Reisen und den vielen Vorträgen, die er in Italien und in Afrika hält. Pater Giulio war gerade aus Kenia zurückgekehrt, das von einem schier unkontrollierbaren Bürgerkrieg erschüttert wird; er hatte dort wieder einmal erfahren, wie sich internationale Interessen mit internen Fragen vermischen und wie dann brutale Zusammenstöße entfacht werden, bei denen Tausende verschwinden, während Rohstoff-Multis riesige Gewinne in genau den Gebieten machen, wo zuvor diese Stammeskriege der Ausbeutung den Weg bereitet haben.

Meine aus Kamerun stammende Verlobte Marguerite begleitete mich, sie war gerade von einem Besuch ihrer Heimatstadt Douala zurückgekehrt und berichtete von dem unheimlichen Gefühl allgemeiner gesellschaftlicher Spannungen, die sich dann wenige Tage später in einem Aufruhr gegen hohe Preise und die allgemeine Wirtschaftskrise entluden. Pater Giulio und Marguerite tauschten ihre Analysen und Eindrücke aus, beide kamen zu dem Schluss, dass wir gegenwärtig Zeuge von Entwicklungen sind, die ganz Afrika zu einem neuen Nahen Osten machen werden: „Öl und Rohstoffe − eigentlich Afrikas Reichtum −, sind heute der Fluch des Kontinents“.

Pater Giulio zeigte uns sein neues Buch, das bereit in einer zweiten, verbesserten Auflage vorliegt und den provokativen Titel trägt: „Hic sunt leones“ − "Hier sind die Löwen“, die Bezeichnung der Römer für die „Terra incognita“ unmittelbar südlich von Ägypten und der nordafrikanischen Küste. Jahrhundertelang charakterisierte dieser Begriff das Verhalten der Europäer und der so genannten westlichen Welt gegenüber Afrika. Diese Distanz und Ignoranz des Westens dauern bis zum heutigen Tage an: noch immer sprechen viele Intellektuelle und sogar Regierungen von Afrika als dem „unbekannten“ oder „wilden“ Kontinent oder schlicht von dem „Traum“.

Pater Albanese gehört zum Orden der Comboner, den Monsignor Daniele Comboni begründete, einer der ersten Priester, die im 18. Jahrhundert in den Sudan gingen und dort aus Liebe zu den Menschen und zum Kontinent gegen die Sklaverei kämpften. Comboni wurde von Papst Johannes Paul II heiliggesprochen. Pater Albanese studierte vier Jahre lang an der Universität von Kampala in Uganda; er war damals der einzige weiße Student, von seinen Kommilitonen liebevoll der „weiße Fleck“ genannt.

Während seiner Arbeit als Missionar in Afrika erlebte Giulio häufig, wie Ungerechtigkeit, Lügen und Korruption von westlichen Interessen mithilfe arroganter und geld- und machtgierigen örtlichen Führern betrieben wurde. Er sah, dass diese Ungerechtigkeiten auch deshalb möglich waren, weil die gutwilligen Menschen dieser Welt, im Süden wie im Norden, einander entzweite wurden, damit sie die Wirklichkeit und die Wünsche des jeweils anderen nicht kennenlernten. Er entschied sich, „die Stimme derer zu werden, die keine Stimme haben“ und gründete 1996 die katholische Missions-Presseagentur MISNA, die ihren Sitz in Rom hat, aber über das Internet und das Netz von Missionaren und Vertretern der Zivilgesellschaft in Afrika und im ganzen Süden der Welt unterhalten wird.

Während dieser Jahre schrieb Pater Albanese mehrere Bücher, die informieren und gleichzeitig das schlafende Gewissen der Menschen wecken sollte, die durch das Fernsehen zu passiven Beobachtern der Tragödien von Armut und Völkermord gemacht wurden. In seinem 2005 erschienenen Buch „Kleine Zinnsoldaten“ schrieb Giulio über die Hunderttausende afrikanischer Jungen und Mädchen, die entführt und dann gezwungen werden, wahnsinnige blutige Kriege zu führen, sei es in Uganda, Liberia oder Sierra Leone, und zwar stets unter dem brutalen Kommando religiöser Spinner oder gewissenloser Rohstoff-Händler.

Das Buch „Hic sunt leones“ ist in Kapitel unterteilt, die mit der Präzision eines investigativen Journalisten und der Leidenschaft eines Mannes geschrieben sind, der wachrütteln will und im Leser die Leidenschaft wecken will, nach dem so „facettenreichen und überraschenden Afrika zu suchen, einem Kontinent mit 56 Ländern und genauso vielen Regierungen, wo mehrere hundert Sprachen gesprochen werden und wo 840 Millionen Menschen zusammenleben.“

Giulio bat unseren gemeinsamen Freund, den in Kongo-Brazzaville geborenen mutigen Journalisten Jean Leonard Touadi, die Einleitung zu seinem Buch zu schreiben; Walter Veltroni, der Bürgermeister von Rom, hatte Touardi kürzlich zum städtischen Beauftragten für die Universitätspolitik ernannt. Wie Albanese, so hält auch Touardi Afrika für „nicht arm, sondern in die Armut getrieben“ und blickt gleichzeitig hoffnungsvoll auf die außergewöhnliche Fähigkeit der Afrikaner, über sich selbst zu lachen − eine Eigenschaft, die uns Europäern schon lange abhandengekommen ist.

Beim Lesen des Buches stellt man überrascht fest: „Hier ist endlich jemand, der den Mut aufbringt, die Wahrheit zu sagen und die Namen zu nennen.“ Bei dieser Besprechung möchte ich mich auf ein Kapitel beschränken, das überschrieben ist: „Afrikas Wirtschaft, gefährliche Utopie.“

Eingangs beschreibt Pater Albanese ein Treffen mit einem Engländer in Freetown, der Hauptstadt Sierra Leones, der sich ihm als Vertreter einer „Sicherheitsfirma“, (sprich: ein Söldner), vorgestellt hatte. Diese Leute bezeichnen sich heute als die neuen Spezialisten. „Es wimmelt in Afrika von diesen Gestalten, die im Dienst mehr oder minder finsterer Mächte stehen und die örtlichen Oligarchien korrumpieren, seien diese nun Regierungen oder Rebellenorganisationen“, warnt der Autor. Es ist ein Geschäft, das durch die Deregulierung entstanden ist und bei dem sich illegaler Waffenhandel und gewisse weltweite Finanzapparate mehr oder weniger unverhohlen vermischen.

Trugbild Wirtschaftsaufschwung

Pater Giulio zerstört das Trugbild, das die internationalen Wirtschaftsorganisationen von dem angeblich grandiosen Anstieg des Bruttoinlandsproduktes der afrikanischen Länder zeichnen, eine geschönte Darstellung, die die dramatische Wirklichkeit, in der die Bevölkerung lebt, verdecken soll. Gewiss, 2004 ist das BIP um 5,1% gestiegen, aber der Gesamthaushalt aller Länder südlich der Sahara belief sich auf 436 Mrd. Dollar, gerade einmal die Hälfte des BIP Spaniens! Der Vorschlag, die Auslandsschulden mehrerer armer Länder zu streichen, ist begrüßenswert, aber schon im UNCTAD-Bericht für 2004 ist zu lesen, dass Afrika bereits mehr Geld an internationale Banken bezahlt, als es von den Geberländern des Nordens erhält. „Das liegt daran, dass die afrikanischen Regierungen durch die hohen Zinsraten, die die internationale Großfinanz erhebt, stranguliert wird.“

Afrika hat ein großes Problem: der Kontinent schwimmt auf einem Ölsee und ist damit für die westlichen Mächte, allen voran die USA, zur strategischen Priorität geworden. Nach Ansicht von Experten der Bush-Administration sollten amerikanische Öl- und Gasimporte aus Afrika von heute 15% auf 25% ansteigen. Angola, Kamerun, Tschad, Gabun, Equatorial Guinea, Nigeria und Sao Tomé haben unermessliche Reserven an leichtem Öl, dem besten Grundstoff für „umweltfreundliches“ Benzin.

2002, während der Amtszeit der Regierung Bush, organisierte das Institut für Strategische und Politische Studien ein Seminar mit Regierungsvertretern und privaten Geschäftsleuten, aus dem zwei Initiativen hervorgingen: Die Initiative für Afrikanische Ölpolitik und ein, Weißbuch „Afrikanisches Öl, eine Priorität für amerikanische Sicherheitsinteressen und die Entwicklung Afrikas“, das Geschäfte mit Afrika anschieben sollte, selbstverständlich im Interesse Amerikas.

2004 veranstaltete der amerikanische Senate mehrere Anhörungen zu diesem Thema; David Goldwin vom CSIS in Washington erläuterte die Pläne, die Kapazität zur Ölverflüssigung in Afrika, vor allem in Nigeria und Angola. von 9 auf 40 Millionen Tonnen pro Jahr zu erhöhen. Pater Giulio berichtet weiter, beide Länder verzeichneten keinen deutlichen Anstieg des Haushalts oder des Profits aus diesem Ölgeschäft, während die Nichtregierungsorganisation Global Witness 2001 berichtet, 1,6 Mrd. Dollar an Öleinnahmen seinen in den Taschen zweier angolanischer Ölhändler versackt.

Dieser amerikanische Plan wird maßgeblich von Texan Vanco Energy aus Houston betrieben, einem Ölmulti mit Verträgen über die Ausbeutung von Ölvorkommen vor der afrikanischen Küste von Marokko bis hinunter nach Madagaskar, ein Gebiet von 120.000 Quadratkilometern. Merkwürdigerweise sind gegenwärtig alle die ölreichen Gebiete, wie etwa Sudan, Tschad, die Zentralafrikanische Republik, Kamerun, der Gold von Guinea usw. Schauplätze großer politischer und sozialer Instabilität und Kriege.

Teodoro Obiang Nguema, der despotische Präsident Äquatorialguineas, kann zu Hause machen was er will, ohne Rücksicht auf Menschen- oder Bürgerrechte, und das mit Billigung Halliburtons, der Firma, die sich auf Ölforschung und die Verwaltung von Ölfirmen in dem Land spezialisiert hat.

Giulio beendet das Kapitel mit seiner Unterstützung für den Wissenschaftler und Ökonomen Joseph Ki-Zerbo aus Burkina-Faso, der daran arbeitet, einen gemeinsamen afrikanischen Binnenmarkt aufzubauen und dadurch die Produktion vor Ort und die Entwicklungsprojekte zu stützen.

Das „gelbe Afrika“

Im darauffolgenden Kapitel beschreibt Pater Albanese das „Gelbe Afrika“, nämlich das Eindringen Chinas nach Afrika, um Zugang zu Öl und anderen Rohstoffen zu erhalten: Diese Politik wird seit Jahren betrieben, ohne dass die sogenannten Afrikaexperten des Westens dem große Beachtung geschenkt hätten.

Der erste Bericht erschien 1998 in Nigrizia, der italienischen Monatszeitschrift der Cobonischen Missionare: dort wurde detailliert über die Anwesenheit von 20-80.000 chinesischen Technikern, Geschäftsleuten und Militärs im Sudan berichtet. Ein wichtiges Ölfeld, El Muglad, 800 km südwestlich von Khartoum, ist durch eine 1600 km lange Pipeline mit dem Ölterminal Suakin am Roten Meer verbunden; das Ölfeld gehört der GNPOC (Ölgesellschaft am Oberen Nil), 40% werden von der Nationalen Chinesischen Ölgesellschaft kontrolliert, nur 4% vom Sudan selbst.

„Am 30. August 1999 verlies der erste Öltanker mit 600.000 Barrel Öl an Bord diesen Hafen, mit Ziel auf die Royal Dutch Shell Raffinerien in Singapur. Es mag eine Ironie sein, dass der IWF am selben Tag Sudan zu einem 'vertrauenswürdigen' Land für westliche Investoren erklärte“, schreibt Albanese.

Gegenwärtig stammen 6% der chinesischen Ölimporte aus dem Sudan. In den vergangenen Jahren hat China seine Geschäfte in allen Bereichen von Infrastruktur und Rohstoffen auf dem ganzen afrikanischen Kontinent ausgeweitet. Am 14. Januar 2006 erklärte der Staatssekretär für Afrikaangelegenheiten im US-Außenministerium, Jenday Frazer, Washington betrachte den Chinahandel in Afrika „nicht als Bedrohnung der amerikanischen Interessen.“

Albaneses Buch, für das sich auch andere Verlage zur Veröffentlichung in anderen Ländern interessieren sollten, berührt wichtige und bewegende Aspekte des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens in Afrika, afrikanischer Frauen und Intellektueller. Es fordert die Kirchen auf, nach Wegen zu einem religiösen Dialog zu suchen, der schon immer in der afrikanischen Tradition tief verwurzelt ist.

Eine interessante und weithin unbekannte Besonderheit des Buches ist der Bericht über die Geschichte des deutschen Kartographen Arno Peters aus Bremen, der gegen den Widerstand führender Mächte und offizieller Kulturinstitute 1973 erstmals eine neue Projektion des Planeten erarbeitete, die − ausgehend vom Äquator − eine korrektere Proportion der einzelnen Erdteile erstellte. Bis zu dem Moment war die Erdoberfläche von einer Projektion der europäischen nördlichen Hemisphäre ausgegangen!

Pater Giulio schließt mit der Unterstützung für Thomas Sankara, dem oft verleumdeten Präsidenten Burkina Fasos, der 1987 für seine Ideen einer Unabhängigkeit und Souveränität Afrikas sterben musste. „Um eine radikale Veränderung zu erreichen, müssen wir alle den Mut aufbringen, die Zukunft zu erfinden. Was immer dieser Vorstellung entspringt, das kann der Mensch Wirklichkeit werden lassen.“

Hic sunt leones, von Giulio Albanese,
Verlag Paoline Editoriale Libri, 2. Auflage 2007


Geschrieben von Paolo Raimondi
Samstag, 22. März 2008

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