„Trotz der Tränen"

Irmgard Litten - "Trotz der Tränen"

Fünf Jahre kämpft Irmgard Litten verzweifelt um die Befreiung ihres Sohnes Hans aus der Hölle der Konzentrationslager. Am 8. Mai 1931 – auf den Tag genau 14 Jahre vor dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft – hatte der junge Anwalt Adolf Hitler öffentlich herausgefordert und bloßgestellt. Irmgard Litten kann ihren Sohn nicht befreien. Am 5. Februar 1938 entzieht sich Hans Litten im Konzentrationslager Dachau weiteren Verhören und begeht Selbstmord. Doch seine Mutter gibt nicht auf. Schon 1940 erscheint in Paris ihr Buch „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“, in dem sie den Leidensweg ihres Sohnes an die Öffentlichkeit bringt. Unter dem Titel „Irmgard Litten – Trotz der Tränen“ ist eine gekürzte Ausgabe in einer Hörbuch-Fassung erschienen, gelesen von der Schauspielerin Patricia Litten, Enkelin der Autorin und Nichte von Hans Litten. Im Gespräch mit Renate Müller De Paoli spricht Patricia Litten von einem „Schleier der Bedrohung“, der „über uns hing“.

Patricia Litten
Patricia Litten


Frau Litten, Ihr Onkel, Hans Litten, war Nebenkläger gegen Mitglieder des SA-Sturms 33 in dem berüchtigten Edenpalast-Prozess und holte Adolf Hitler in den Zeugenstand. Ein unglaublicher Schritt für einen 27-jährigen Anwalt! Wie kam es dazu?


Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein wenig ausholen.
Man muss sich zunächst einfach die damalige Zeit vor Augen halten. Der verlorene Erste Weltkrieg – die hohen Reparationskosten, die erste Weltwirtschaftskrise, die enorme Arbeitslosigkeit und damit einhergehende Perspektivlosigkeit – das alles war und ist, wie wir alle wissen, ja nach wie vor, der ideale Humus, auf dem Radikalismus und Nationalismus und all die damit verbundenen Auswüchse gedeihen können. Das führte im Speziellen in Berlin zu bürgerkriegsähnlichen Straßenschlachten, in denen es immer wieder auch Tote gab. Arbeiter, Sozialisten, Kommunisten standen unversöhnlich den zunehmend und besonders aggressiv auftretenden Rollkommandos gegenüber, die es sich zum Spaß gemacht hatten, gerne auch mal friedliche Veranstaltungen zu stören. So stürmten sie zum Beispiel eines Abends im Januar 1931 den Edenpalast – heute würde man von „einem der angesagtesten Clubs“ sprechen –, dem Treffpunkt der kommunistischen und sozialistischen Arbeiterschaft und schossen vollkommen unverhofft mitten in die tanzende und feiernde Menge. Es gab Tote und Schwerverletzte.

Im April 1931 folgte der besagte Prozess, in welchem Hans Litten es gewagt hatte, Hitler in den Zeugenstand zu holen. Er wollte ihm und damit in erster Linie den anwesenden Richtern, Journalisten etc. beweisen, dass Hitler und seine NSDAP sehr wohl – entgegen seiner Aussage in Leipzig nur wenige Monate zuvor, wo er im Reichswehrprozess als Zeuge den Legalitätseid abgelegt und behauptet hatte, dass er „niemals vor habe, sich vom Wege der Legalität abdrängen zu lassen“ – die Gewalt nicht nur billigend in Kauf nehmen oder dulden würde, sondern sie hervorrufe!

Er konfrontierte Hitler mit Zitaten aus der Partei-Broschüre des Propagandaleiters Goebbels: „das Parlament zum Teufel jagen...“ – „den Gegner zu Brei zerstampfen...“ – „von der Revolution des Worts zur Revolution der Tat übergehen...“ und setzte ihn mehrere Stunden lang gewaltig unter Druck, so dass dieser sich immer häufiger in Widersprüche verstrickte und die Fassung verlor.

Hier, an diesem 8. Mai – also auf den Tag genau 14 Jahre vor dem Ende des „tausendjährigen“ Reichs und Hitlers Selbstmord – wurde Hitler in einem übervollen Saal des Kriminalgerichts in Moabit, alles was Rang und Namen hatte, war anwesend, das Medienecho war enorm, von diesem 27 Jahre jungen Anwalt, vorgeführt, bloßgestellt und der Lächerlichkeit preisgegeben. Das hat er ihm nie verziehen!
Er verließ das Gericht mit den Worten: „sobald es in meiner Macht steht, lösche ich diese Familie aus...“


Welche Folgen hatte das für Ihre Familie? Nach dieser stundenlangen Vernehmung setzte Hitler Ihren Onkel auf seine persönliche „Beseitigungsliste“.

Hans wurde noch in der Nacht des Reichstagbrandes verhaftet und in so genannte Schutzhaft genommen. In den darauf folgenden fünf Jahren von einem Konzentrationslager ins andere verschleppt und aufs Grausamste gefoltert. Am 5. Februar 1938 hat er sich in Dachau erhängt, als ihm erneut ein „Verhör“ bevorstand.

Der mittlere Bruder Dr. Heinz Litten, musste bei Nacht und Nebel in einem Auto aus Chemnitz fliehen, wo er Oberspielleiter und Regisseur des dortigen Schauspielhauses war. Er war den Nazis schon lange durch seine revolutionären und provokanten Inszenierungen ein Dorn im Auge, Inszenierungen, die durch ihre pazifistischen und sozialistischen Tendenzen – er studierte z. B. Chöre mit der Arbeiterjugend ein – längst unangenehm aufgefallen waren. Auch hielt er Vorträge und schrieb Artikel, in denen er die Nazis aufs Schärfste kritisierte.
Er entschloss sich Irmgard im Kampf um Hans zu unterstützen und lebte mehr oder minder im Untergrund. Als Hans tot war und Irmgard nichts mehr für ihn tun konnte, ging er mit ihr nach England.

Der jüngste Bruder Rainer, mein Vater, der damals erst 24 Jahre alt – und durch Protegierung von Bassermann und Albers – eben im Begriff war, in Berlin eine Senkrechtkarriere als Schauspieler zu starten, wurde von einem Tag zum anderen von sämtlichen Besetzungslisten gestrichen. In Filmen, aus denen man ihn nicht mehr herausschneiden konnte, wurde sein Name durch einen anderen ersetzt. Und Theaterdirektoren hatten nicht mehr den Mut, ihn länger unter Vertrag zu nehmen, da man ihnen sonst mit Schließung des Theaters gedroht hätte. Für ihn war es viel zu gefährlich, unerkannt in Berlin zu bleiben und so entschloss er sich, Deutschland zu verlassen. Auf den üblichen Routen, erst Prag, wo er eine zeitlang noch am Deutschen Theater arbeiten konnte, über Paris, bis zur Okkupation der Deutschen und dann schließlich weiter in die Schweiz, nach Luzern. Dort am Stadttheater, wohin es auch viele andere Emigranten verschlagen hatte und wo er auch seine große Liebe, unsere spätere Mutter, kennenlernte, auch sie hatte Deutschland den Rücken gekehrt, auch sie eine Schauspielerin. Dort spielte er sich in die Herzen der Zuschauer und blieb in der Schweiz. Der Vater, Fritz Litten, hat alles verloren, was ihm wichtig war und was er sich hart erarbeitet hatte. Seine Position, er war Dekan und Professor der Jurisprudenz in Königsberg. Sein Haus war eines der ersten Adressen am Platz, alles was Rang und Namen hatte, die Honoratioren der Stadt legten großen Wert darauf eingeladen zu werden, wenn wieder mal ein Fest gegeben wurde. Er war also hoch angesehen und mit einem Mal war all das Makulatur. Sein Lebenswerk lag in Scherben. Er verlor seine Position, sein Gehalt, seine Pension, sein Ansehen, seine Privilegien und war öffentlichen Verleumdungen ausgesetzt, die genüsslich in den Zeitungen ausgebreitet wurden.

Er hat es wohl nie verwunden, dass er all dies Hans und seinem „Starrsinn“ zu verdanken hatte. Und dass das wiederum für das Paar Irmgard und Fritz nicht folgenlos blieb, kann man sich vorstellen. Dennoch hat Irmgard alles unternommen, ihn nach England nachzuholen, wo er dann sehr bald einsam und verbittert irgendwo in Schottland an einer Grippe verstarb.

Hans Litten
Hans Litten


Ihre Großmutter Irmgard kämpfte fünf Jahre verzweifelt um die Freilassung ihres Sohnes. Wie ist Ihre Familie damit umgegangen? Hat Ihr Vater mit Ihnen darüber gesprochen?

Hätte ich meinem Vater Fragen gestellt, hätte ich bestimmt Antworten erhalten, davon gehe ich aus, aber ich habe keine gestellt.
Warum, werden Sie sich jetzt bestimmt fragen...
Dafür habe ich mehrere Vermutungen. Zum einen nimmt man als kleines Kind alles für selbstverständlich. Egal wo und unter welchen Umständen man aufwächst, man hinterfragt das nicht. Das ist so und ist gut so.
Ich wuchs in einer vollkommen idyllischen Umgebung am Vierwaldstättersee in Luzern auf. Nirgendwo Ruinen, zerbombte Häuser, alles in bester Ordnung. Das war meine Realität, woher sollte ich denn einen Begriff haben, dass es auch anders sein kann, dass meine Eltern von wo anders kommen? Die Frage nach meinen Großeltern väterlicherseits zum Beispiel wurde wahrheitsgemäß beantwortet, mit: „Die sind im Himmel“. Und damit war auch das zunächst nicht weiter bedrohlich, denn das tun Großeltern eben gelegentlich: sterben...

Erst allmählich spürte ich, dass da irgendetwas war, was ich nicht greifen konnte, was mehr atmosphärischer Natur war und meinem Vater weh zu tun schien... Dieser Eindruck bestärkte sich dann, als ich in die Schule kam. Inzwischen wohnten wir in der Nähe von Zürich, auf dem Lande. Und das in den spießigen 1960er Jahren. Meine Eltern sprachen DEUTSCH nicht Schweizerdeutsch, waren Schauspieler, meine Mutter war strahlendschön, geschminkt und duftete nach Parfüm – ich hieß Patricia – wie viel lieber hätte ich Ursle, Brigit oder Heidi geheißen, um nicht alleine schon durch meinen Namen aufzufallen – wir waren EXOTEN, was mir als Kind doch eher unangenehm war – und dann wurde ich auch noch eines Tages vor versammelter Klasse vom Lehrer lächerlich gemacht, weil ich in lupenreinem Deutsch eine Antwort gegeben hatte, anstelle des so typischen „Schweizer Hochdeutsches“. „ Du huere verdammte Sauschwab, hör uf mit dem verdammte Schwöbele, das chasch dänn uf de Bühni mache, bi eus heisst das …“ – und es folgte die „korrekte“ Aussprache, in der ich die Antwort hätte geben sollen. Mit diesem einen Satz hatte dieser Lehrer alles „beschmutzt“, was zu mir gehörte: Der Beruf meiner Eltern („das chasch dänn uf de Bühni mache...“) also auf der Bühne, das „Schwöbele“ – also die Deutsche Sprache und „SAUSCHWAB“ bedeutet gleichviel wie: „Der hässliche Deutsche“– und ich war wohl so ein Vertreter dieses verachtungswürdigen Volkes.Gleichzeitig wusste ich aber auch, aus nächtelangen und leidenschaftlich geführten politischen Diskussionen bei uns zuhause, mit Freunden, es floss dabei immer viel Rotwein, dass mein Vater selber, allem was mit Deutschland zusammenhing, unversöhnlich gegenüberstand.

Und ich schien all das zu repräsentieren. Ich konnte das alles nicht einordnen und schwieg, und schämte mich – ja wofür bloß?
„Sie sind alle noch da in Amt und Würden“, höre ich ihn heute noch sagen.
Heute weiß ich, dass er damit Recht hatte (Karl Carstens – Filbinger etc., nicht zu reden von all den Juristen, Ärzten, Professoren, die weiterhin nach Kriegsende ihren Beruf ausüben durften.) Er hat NIE wieder deutschen Boden betreten, weigerte sich Wiedergutmachung in Anspruch zu nehmen, er wollte NIE wieder was mit diesen Menschen, zu tun haben, solange sie sich nicht wirklich mit ihrer Geschichte auseinander setzten, auch der Blick auf das „andere“ Deutschland war kein Grund zur Freude, hatte sich doch dort auch bereits wieder die brutale Zerschlagung des Arbeiteraufstandes am 17. Juni 1953 und vieles andere mehr ereignet. Nur wenige Wochen danach starb übrigens meine Großmutter in Ostberlin, wo sie inzwischen lebte.

Aber zurück zu Ihrer Frage:
Ich spürte mehr und mehr, dass es da was gab, das wie ein Misston, ein Schleier der Bedrohung über uns hing, woran zu rühren ich mich nicht getraute. Wohl wusste ich um Mimi, so nannten ihre Söhne sie liebevoll, stand doch, seit ich denken konnte, dieses Foto auf seinem Schreibtisch. Und wenn von ihr die Rede war, schwang immer ganz viel Zärtlichkeit und Stolz – ja Hochachtung mit – auch Hans’ Bild – genauer die Kohlezeichnung, die ein Mitgefangener im Konzentrationslager Lichtenburg von ihm gezeichnet hatte, stand auf dem Schreibtisch ... Aber ich spürte unbewusst, dass das alles mit großer Trauer verbunden war – ich schwieg, wollte nicht daran rühren, nicht der Grund sein, dass Daddy „traurig“ wird...

Dann war es plötzlich zu spät für Fragen! Mein Vater starb, als ich 17 war, viel zu jung, mit 62 Jahren, an einem Lungenemphysem. Ich glaube, er ist an dieser ganzen Tragödie „erstickt“.
Zwei Tage nach seinem Tod – ich sehe das noch wie heute vor mir – entdecke ich das Buch meiner Großmutter im Bücherregal. Da stand es aber schon die ganze Zeit! Nicht erst an diesem Tag! Warum, weshalb ich es vorher nie erblickt habe, wissen die Götter. Jetzt erst erfuhr ich, WAS sich zugetragen hatte. Die Lektüre dieses Buches hatte mich buchstäblich umgehauen! Ich war völlig überfordert damit und ich konnte nicht mehr mit meinem Vater darüber sprechen – das war das Schlimmste.

Irmgard Litten
Irmgard Litten


Welche entscheidenden Schritte unternahm ihre Großmutter? Welche Beziehungen versuchte sie, zu spielen? Welche Aktionen einzuleiten?

Ich habe ja schon erwähnt, dass die Familie Litten in Königsberg einen großbürgerlichen Haushalt führte und großes Ansehen genoss. Aus dieser Zeit stammten viele ihrer Kontakte, die sie jetzt Jahre später, für die Befreiung von Hans nutzte. Nicht wenige darunter hatten unter Hitler große Kariere gemacht, so zum Beispiel: Reichswehrminister von Blomberg, der damals in Königsberg als kommandierender General stationiert war und der auch ein Treffen mit Reichsjustizminister Gürtner vermittelte – sogar Freissler empfing sie, aber es half alles nichts. Es konnte keiner was für Hans Litten tun. Freissler sagte wohl später einmal zu Freunden: “Es wird niemand was für Litten erreichen. Hitler lief blaurot im Gesicht an, als er den Namen hörte“.

Sie sucht aber auch Künstler auf – einer von ihnen ist Furtwängler- auch er will sich beim Führer für ihn einsetzen, aber auch das führt zu nichts. Sie sucht die Schauspielerin Emmi Sonnemann auf, die mit Göring verheiratet ist. Diese denkt zunächst, es handele sich um ihre „Theater Söhne“ und ist ziemlich erschrocken, als sie erfährt, dass es um Hans geht, aber auch sie will es versuchen, will mit ihrem Mann über ihn sprechen und wenigstens erreichen, dass er nicht mehr gefoltert wird.

Mimi schreibt Gnadengesuche an alle in Betracht kommenden Persönlichkeiten: Hitler, Himmler, Göring, Hindenburg. Sie wendet sich auch an deren persönliche Adjutanten, zum Beispiel an Hess – sie schreibt Bittgesuche zu allen erdenklichen Gelegenheiten wie „Hitlers Geburtstag“, zu nationalsozialistischen Gedenktagen oder nach besonderen Erfolgen. Man kann sich vorstellen, wie viel Kraft, wie viel Überwindung sie das gekostet hat.

Sie nimmt Kontakt auf mit dem Ausland, mit dem Roten Kreuz, mit Lord Allen of Hurtwood, der daraufhin auch eine Petition an Hitler schickt, die von prominenten Juristen in England mit unterzeichnet wird. Das alles nützte nichts. Und ich stelle mir wieder und wieder die Frage, weshalb die Welt so lange zugeschaut und nichts unternommen hat, obgleich ALLEN klar sein musste, was sich in Deutschland abspielte – informiert waren sie ja! Und so drängen sich mir auch jetzt wieder dieselben Fragen auf: WARUM lassen wir es zu, dass Tag für Tag hunderte von Menschen vor unseren Augen jämmerlich ertrinken, Menschen die unsere Hilfe so bitter nötig hätten, an deren Unglück wir durchaus auch unseren Anteil haben. Wir wissen es und wir unternehmen nichts! Gründe dafür gibt es immer!


Der Wallstein-Verlag würdigt Hans Litten mit einer „biographischen Annäherung“ unter dem Titel „Denkmalsfigur“. Welche Bedeutung hatte das Wort „Denkmalsfigur“ für Hans Litten?

Hans wollte im Grunde genommen immer Kunstgeschichte, Philosophie und Literatur studieren. Aber als Erstgeborener musste er sich dem Willen des Vaters beugen und Jura studieren. Nun das tat er, wenngleich nach seiner Façon, indem er der Anwalt der kleinen Leute wurde. Immer getrieben von seiner unbändigen Sucht, Gerechtigkeit wallten zu lassen. Aber seine eigentliche Leidenschaft gehörte den Künsten. Nur so hat er wohl auch diese vielen Jahre überleben können. Er beschäftigte sich auch dort, in diesen unmenschlichen Lagern, wann immer es ging, mit Kunst und so waren die Briefe auch immer Gegenstand von – über alles andere durfte ja auch nicht gesprochen werden – Reflexionen und Betrachtungen über gotische Baukunst oder seine Beschäftigung mit frühmittelalterlichen Texten, die er in ein zeitgemäßes Deutsch übertragen wollte, oder über seine Shakespeare Übersetzungen oder seine langen Gespräche über Musik. Da lag es nahe, dass Irmgard und Hans das Wort „Denkmalsfigur“ auch ohne Gefahr als Schlüsselwort für den neu zu findenden Kode verwenden konnten. Und ein neuer Kode war dringend notwenig, da sie ja sonst keine Informationen hätten austauschen können. Insofern ist der Titel DENKMALSFIGUR auch in seiner Ambivalenz, sehr gut gewählt.


Ihre Großmutter hat den Leidensweg ihres Sohnes bis zu seinem Selbstmord am 5. Februar 1938 im Konzentrationslager Dachau, in ihrem Buch „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“, das bereits 1940 in den Vereinigten Staaten erschien, an die Öffentlichkeit gebracht. In einer bewegenden Lesung stellen Sie Teile in dem Hörbuch „Trotz der Tränen“ vor. Wie sehen Sie Ihre Großmutter? Welche Verbindung haben Sie zu ihr?


Das Buch ist übrigens das allererste Mal 1940 in Paris erschienen, in der „Editions Nouvelles Internationales“. Mit der Okkupation der Deutschen wurde es sofort aus dem Verkehr gezogen. Erschien dann nur wenige Monate später in England unter dem Titel: „A Mother Fights Hitler“ und wenige Wochen später in den Staaten unter dem Titel: „Beyond Tears“. Meiner Hörbuch-Verlegerin gefiel dieser Titel besser, weshalb die Audio CD nun auch „TROTZ DER TRÄNEN“ heißt.

Aber um nun auf die eigentliche Frage zurückzukommen: Wie gerne wäre ich dieser unglaublich mutigen und kämpferischen Frau begegnet! Meine Schwester, die elf Jahre älter ist als ich, hatte dieses Vergnügen noch und hat sie erlebt als wunderbare, liebevolle Oma, die mit ihr Hausaufgaben gemacht hat und wundervolle humorvolle Gedichte für sie verfasste – „Gute Nacht Gedichte“, damit ihr kleines, einziges Enkelkind keine Albträume haben brauchte.

Und jeder, der sie kannte, der mit ihr zu tun hatte, beschreibt sie als eine ganz außergewöhnliche, kluge, humorvolle Frau, die niemals ihren Glauben an die Humanität verloren hat und sich bis zuletzt dafür einsetzte. Ohne sie je gekannt zu haben, fühle ich mich ihr unglaublich nah und verbunden.

CD - Cover " Trotz der Tränen"
CD - Cover " Trotz der Tränen"


Welche Reaktionen erfahren Sie in Ihren Lesungen? Wie reagieren z. B. junge Menschen?

Das ist wirklich beglückend und stimmt mich jedes Mal wieder „hoffnungsfroh“, macht Mut und bestätigt immer wieder meine Überzeugung, dass die „HERZENSBILDUNG“ hier zulande VIEL zu kurz kommt.
Eigentlich passiert jedes Mal das Gleiche!
Am Ende angekommen, macht sich nach jeder Lesung eine Stille breit, die so intensiv ist, dass man meint, sie mit Händen greifen zu können. MINUTENLANG! Keiner sagt was! Das ist so schön, so wohltuend, so unerwartet, in einer Zeit, in der die meistens „kiddies“ doch nur noch mit ihren Smartphones beschäftigt sind. Dann nach einer gefühlten Ewigkeit kommt meistens ganz allmählich ein Gespräch in Gang. Sehr persönliche Fragen werden oft an mich gestellt und ganz schnell kommen wir darüber auf so wichtige Dinge zu sprechen, die ja auch sie betreffen, die auch heute noch relevant sind – und zur Zeit leider wieder eine traurige Realität erfahren.

Man denke nur an das Flüchtlingselend. Ich versuche – und das ist mir GANZ WICHTIG, denn es geht mir nicht darum, immer und immer wieder über das Dritte Reich zu sprechen, sondern auf der Folie dieses berührenden Buches meiner Großmutter, die Kinder oder auch Bundeswehrsoldaten (!) oder angehende Juristen für Vorgänge zu sensibilisieren, die auch heute überall auf der Welt stattfinden: Ob das nun Anwälte betrifft, die auch heute noch verfolgt und gefoltert werden, weil sie sich für Menschenrechte einsetzen oder um investigative Journalisten oder Filmemacher oder einen BLOOGER, der zu tausend öffentlichen Peitschenhieben verurteilt wurde.

Oder ob es darum geht, zu erklären, dass ich ihnen heute nicht aus diesem Buch vorlesen könnte, wäre nicht ein Land bereit gewesen, meinem Vater Politisches Asyl zu geben (damals die Schweiz), ebenso hätte meine Großmutter nicht überlebt. Den Blick zu schärfen, Empathie zu wecken, dass hinter JEDEM einzelnen Schicksal, heute wie damals, ein Mensch steht, der Geburtstage gefeiert, geliebt, geweint, gelacht und sich am Essen gefreut hat. Und sich an einer Blume, der Sonne, den Gerüchen seiner Heimat, den Liedern erfreut hat. Je konkreter ich werde, desto unmöglicher wird es, dem Leben gegenüber indifferent zu bleiben. Und wenn mir dann von einem Jungen gesagt wird, dass er jetzt nicht mehr derselbe sei, der er noch vor zwei Stunden gewesen sei, und dass er mir dafür danke, dann kommen mir schon manchmal die Tränen – Tränen des Glücks, der Freude, nicht zuletzt auch deshalb, weil ich weiß, wie sehr sich Hans und Mimi darüber freuen würden! Sie sind nicht vergessen, so lange wir über sie sprechen und auch das ist mir natürlich ein ganz großes Anliegen!
Wenn wir aufhören über sie zu erzählen, dann haben sie es WIRKLICH geschafft, all die totalitären Regime, dann sind diese Menschen ALLE erst wirklich tot – oder um einen iranischen Dissidenten zu zitieren, der mir im Anschluss an eine Lesung anlässlich des Tages des verfolgten Anwalts am 24. Januar dieses Jahres gesagt hatte:
„Eure Unterstützung, euer über uns Sprechen, ist wie ein Sonnenstrahl, der durch die Gefängnismauern dringt“


Frau Litten wir danken Ihnen.

Vita: Patricia Litten


Patricia Litten wurde 1954 in Luzern geboren. Nach der Schauspielschule in Zürich und München folgen verschiedene Engagements u. a.: Schauspiel Frankfurt, Schiller Theater Berlin, Staatstheater Nürnberg. Diverse Gastspiele in Erlangen, Fürth, Ingoldstadt, Zürich, Mühlheim, am Musiktheater in Nürnberg.
- Auftragsarbeiten u. a. für das Poetenfest Erlangen, die Blaue Nacht Nürnberg, zahlreiche Lesungen u. a.
»Die Lesebühne« mit Hermann Glaser und Erich Ude, mit den Bamberger Symphonikern. Diverse TV- Film und Hörspiel Produktionen.
Preise/Auszeichnungen: Nennung zur Schauspielerin des Jahres in »Theater Heute« 1985, Preise bei den Bayerischen Theatertagen 2002, AZ Sterne des Jahres 1986/1996 und Publikumspreis der Solothurn Filmfeste für den Kinofilm:
»Sommervögel« der auch zu den 63. Filmfestspielen nach Locarno eingeladen wurde. 2013 Hauptrolle in dem Stück: »Seulʼs avec lʼhiver« von Céline Delbecq im Rahmen des RRRR-Festivals in Brüssel.

http://en.wikipedia.org/wiki/Clifford_Allen,_1st_Baron_Allen_of_Hurtwood


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Freitag, 24. April 2015

"Trotz der Tränen"

Irmgard Litten - "Trotz der Tränen"

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