Prof. Dr. med. Friedemann Nauck im Interview

„Dem Tag mehr Leben geben!"

Seitdem vor fast 30 Jahren die erste Palliativstation in Deutschland errichtet wurde, reißt die Diskussion um den palliativen Behandlungs- und Betreuungsansatz nicht ab, wobei oft der Mangel an Information und Kenntnis zu Verunsicherungen, falschen Bildern und Fehlschlüssen führt. Im Gespräch mit Renate Müller De Paoli beschreibt Prof. Friedemann Nauck, der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, u. a. die palliativmedizinische Grundhaltung, wie die Palliativ-Teams arbeiten, was es für die Patienten bedeutet, dass ab 2014 Palliativmedizin Pflichtlehrfach im Medizinstudium wird, wie der Weg zu einer flächendeckenden Palliativversorgung aussehen müsste und was er von den Krankenkassen erwartet.

Prof. Dr. med. Friedemann Nauck
Prof. Dr. med. Friedemann Nauck

„Dem Tag mehr Leben geben“ ist sicher eine Herausforderung für jeden Menschen. Herr Prof. Nauck, was bedeutet das aber für einen Menschen, der an einer fortschreitenden, unheilbaren Krankheit leidet und um sein nahes Lebensende weiß? Wie greift hier die Palliativmedizin?

Dem Tag mehr Leben geben, bedeutet für Menschen, die an einer fortschreitenden und unheilbaren Erkrankung leiden, dass sie Beachtung finden und dass es um sie als Menschen mit ihren körperlichen, psychischen, sozialen und spirituellen Ängsten und Nöten geht. Leben bedeutet Lebensqualität und Lebensqualität lässt sich nur durch eine umfassende Symptomkontrolle erzielen. Viele Krebspatienten und andere Patienten mit fortgeschrittener unheilbarer Erkrankung leiden unter Schmerzen, Luftnot, Angst, Unruhe, Schlaflosigkeit und vielen anderen Symptomen mehr. Die Palliativmedizin hat es sich zur Aufgabe gemacht, schwerkranken und sterbenden Menschen in schwierigen Situationen beizustehen. Hauptziel dabei ist die Verbesserung der Lebensqualität durch die bereits angesprochene umfassende Symptomkontrolle in einem multiprofessionellen Team.

Erleben Sie auch, dass Patienten eine Palliativversorgung strikt ablehnen?

Dass Patienten eine Palliativversorgung strikt ablehnen, stellt eher eine Seltenheit dar. Oft ist es so, dass Menschen nicht ausreichend informiert sind, was palliativmedizinische und hospizliche Betreuung überhaupt bedeutet.

Wie gehen die Palliativ-Teams damit um?

Lehnt ein Patient eine Palliativversorgung ab, so wird dieses vom Palliativteam uneingeschränkt akzeptiert. Jedoch bedeutet eine Ablehnung zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht ein grundsätzliches Sich-Abwenden. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in hospizlichen und palliativmedizinischen Teams stehen diesem Patienten auch zu späteren Zeitpunkten gerne zur Verfügung. Hier braucht es manchmal Geduld, bis ein Patient vielleicht auch erst akzeptieren kann, dass seine Erkrankung weit fortgeschritten und unheilbar ist und damit das Therapieziel nicht mehr auf Heilung ausgerichtet ist, sondern auf Symptomlinderung und bestmögliche Lebensqualität.

Wie beziehen Sie die Angehörigen in diesen Prozess ein? Ich habe z.B. erlebt, wie eine Freundin, deren Mann an einer aggressiven Krebserkrankung litt, in ihrer Verzweiflung nach innovativen Therapiemöglichkeiten im Internet suchte. - Für Angehörige ist es doch oft am schwierigsten, loszulassen und Abschied zu nehmen.

Eine wesentliche Aufgabe in der palliativmedizinischen Versorgung ist es, dass wir nicht nur den Patienten, sondern gleichermaßen ihren Angehörigen beistehen. Ist es nicht verständlich, wenn ein Patient verzweifelt nach weiteren Therapiemöglichkeiten sucht? Hier ist es die Aufgabe, die Angehörigen zu stärken, dazu beizutragen, dass der Dialog zwischen Patient und Angehörigen nicht abbricht, und auch um das Verständnis auf beiden Seiten zu sorgen.

Wie reagieren Patienten und Angehörige aus anderen Kulturkreisen auf den palliativen Behandlungsansatz?

Die Frage, wie Patienten und Angehörige aus anderen Kulturkreisen auf den palliativen Behandlungs- und Betreuungsansatz reagieren, ist schwer zu beurteilen. Hier gibt es zahlreiche sehr unterschiedliche Reaktionen und Handlungen. Wichtig ist jedoch, dass die Palliativmedizin offen ist für jeden Menschen, egal aus welcher Kultur, mit welcher Religion oder welcher Haltung er uns gegenübertritt. Jedoch werden wir zunehmend Patientinnen und Patienten zu betreuen haben, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen in unserem Lande leben. Hier wird es auch eine Aufgabe in der Palliativmedizin sein, sich weiter zu qualifizieren, um dieser schwierigen Frage der Begegnung in unterschiedlichen Kulturen am Lebensende in angemessener Weise und vor dem Hintergrund der Erfahrungen und der Lebenssituation des Patienten adäquat reagieren zu können.

Im April 1983 errichtete die Uniklinik Köln die erste Palliativstation in Deutschland, damals eine Fünf-Betten-Modellstation. Seitdem sind fast 30 Jahre vergangen und das Wissen um die Palliativmedizin ist in der breiten Bevölkerung, ja selbst bei manchen Medizinern und Pflegekräften immer noch gering. Wie ist das möglich?

Die Palliativmedizin hat sich, auch wenn sie immer noch nicht flächendeckend zur Verfügung steht, in den letzten 30 Jahren rasant entwickelt. Kaum ein Bereich in der Medizin hat in den vergangenen Jahren so viel Aufmerksamkeit erhalten. Die Palliativmedizin trifft auf eine Bevölkerung, in der Sterben, Tod und Trauer nicht mehr Teile des Alltags waren. Die moderne Medizin mit den zahlreichen technischen Möglichkeiten hat dazu geführt zu glauben, dass die Medizin und die Ärzte schon alles richten werden. Das Sterben wurde über Jahre in die Institutionen Krankenhäuser und Altenpflegeeinrichtungen verlagert. Die Palliativmedizin benötigt auch in der Gesellschaft den nötigen Rückhalt. Dafür bedarf es einer verständlichen Information und der weiteren Aus-, Fort- und Weiterbildung.

Sicher ist es ein schwerer Schritt für einen Arzt, sich einzugestehen, dass er kurativ seinem Patienten nicht mehr helfen kann oder?

Ja, es ist immer schwer für einen Arzt, der sich intensiv mit seinen Patientinnen und Patienten auseinandersetzt, zu akzeptieren, dass er den Patienten nicht heilen kann. Aber wenn Ärzte, Pflegende und weitere Berufsgruppen den Patienten nicht mehr heilen können, so dürfen sie sich nicht von ihm abwenden, dürfen nicht sagen „ich kann Ihnen nicht mehr helfen,“ oder gar „ich kann nichts mehr für Sie tun“, sondern müssen deutlich machen, dass sie den Patienten und seine Familie begleiten, für die bestmögliche Symptomkontrolle sorgen werden und für ihn da sind.

Hängt der „stiefmütterliche“ Blick auf die Palliativmedizin nicht auch damit zusammen, dass der „normale“ Klinik- und Praxisalltag völlig anders aussieht? Geben Personal- und Bettenabbau, Budgetprobleme, Dokumentationspflichten usw. nicht einen ganz anderen Zeittakt vor? Viele Ärzte und Pflegekräfte fühlen sich „ausgebrannt“, eben weil immer weniger Zeit für den Patienten übrig bleibt?

Es ist richtig, dass sich die Medizin nicht nur mit dem kranken Menschen, sondern auch mit den Fragen von Personalkapazitäten, Bettenkapazitäten, Kosten, aber auch Dokumentation beschäftigen muss. Hierbei ist aber auch deutlich zu machen, dass wir nicht nur eine enorme Kostenexplosion im Gesundheitswesen aufzuzeigen haben, sondern dass wir eine unglaubliche Leistungsexplosion haben. Behandlungen, die vor 10 oder 20 Jahren undenkbar waren, sind durch die heutigen medizinischen und technischen Möglichkeiten gegeben. Diese kosten Geld und Personal, das diese Behandlungen durchführt. Insofern stehen Ärzte und Pflegende vor neuen Herausforderungen, nämlich zu erkennen, wann eine dieser Therapieoptionen für den einzelnen Patienten nicht mehr indiziert ist. Die Angst vor der Übertherapie vieler Menschen zeigt aber auch, dass die Bürgerinnen und Bürger nicht ausschließlich Erwartungen an eine immer bessere Hightech-Medizin hegen, sondern sich auch Gedanken über das Lebensende machen. Hier kann die Palliativmedizin neue Wege aufzeigen und stellt vielleicht sogar einen Paradigmenwechsel dar.

Welche Veränderungen erwarten Sie, wenn jeder angehende Arzt die Grundzüge der Palliativmedizin im Medizinstudium erlernt, was doch ab 2014 Regel sein soll?

Es ist aus meiner Sicht mit einer der größten Entwicklungsschritte oder Entwicklungen, dass Palliativmedizin nun Pflichtlehr- und Prüfungsfach für alle Medizinstudierenden geworden ist. Wenn wir so weit sind, dass jeder angehende Arzt die Grundlagen der Palliativmedizin bereits im Studium erlernt, kann man davon ausgehen, dass die oben beschriebenen Entwicklungen frühzeitiger erkannt werden. Ärztinnen und Ärzte erlernen, dass die Palliativmedizin nicht ausschließlich eine Behandlung für die letzten Tage und Stunden ist. Aktuelle Untersuchungen haben gezeigt, dass die frühe Integration von Palliativmedizin nicht nur eine Verbesserung der Lebensqualität für die Patientinnen und Patienten in sich birgt, und damit Leben gibt, sondern dass gleichzeitig diese Patienten weniger invasive Behandlungsmaßnahmen am Lebensende erhalten und - so zeigt eine Studie - ggfls. auch zu einem längeren Überleben beitragen kann.

In den meisten Fällen bestehen lange Wartezeiten auf ein Bett in einer Palliativstation. In welcher Form sind z. B. Altenpflegeheime auf eine Palliativversorgung eingestellt?

Palliativstationen sind kleine Einheiten mit 5-10 Betten und dadurch kann es sein, dass Patienten auch einmal auf die stationäre Aufnahme auf eine Palliativstation warten müssen. Hier können Konsiliardienste und spezialisierte ambulante Palliativdienste (SAPV-Teams), die multidisziplinär zusammenarbeiten, Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern auf Allgemeinstationen, aber auch in Altenpflegeeinrichtungen, genauso wie zu Hause, gemeinsam mit ihren Hausärztinnen und Hausärzten und den Pflegenden aus den ambulanten Pflegediensten behandeln. Dadurch lassen sich oftmals stationäre Behandlungen in Krankenhäusern oder auf einer Palliativstation verhindern. Die Möglichkeiten der spezialisierten ambulanten Palliativmedizin spielen sich immer mehr ein. Hier sind alle gefordert: Die bisher behandelnden Ärztinnen und Ärzte, die Pflegedienste, die Angehörigen, aber auch die Kostenträger, die für diese Behandlung ausreichend Gelder zur Verfügung stellen müssen, damit die hochspezialisierten ambulanten Palliative Care-Teams mit ihrer 24-stündigen Erreichbarkeit an 7 Tagen in der Woche auf hohem Qualitätslevel Patientinnen und Patienten zu Hause versorgen und betreuen können, die sonst eine stationäre Behandlung bedürften.

Welche Hindernisse müssten aus Ihrer Sicht, Herr Prof. Nauck, aus dem Weg geräumt werden, um eine flächendeckende Palliativversorgung in Deutschland zu schaffen?

Wenn ich an Hindernisse denke, so haben wir schon viele Hindernisse aus dem Weg geräumt. Insbesondere der Weg der weiteren Qualifizierung von Ärztinnen und Ärzten, Pflegepersonal, aber auch der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den anderen Berufsgruppen wird dazu führen, dass wir eine flächendeckende hospizliche und palliative Versorgung in Deutschland schaffen können. Woran wir arbeiten müssen, ist an der Akzeptanz, an der Abstimmung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung und ganz dringend auch an einer gerechten Finanzierung dieser neuen spezialisierten Palliativversorgung, die aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) auch Kosten für unnötige Krankenhausbehandlungen oder unnötig lange stationäre Behandlungen vermeiden kann. Gleichzeitig bedarf es neben der SAPV auch der Etablierung und Integration der allgemeinen Palliativversorgung, für die auch eine Finanzierung bereitgestellt werden muss. Ziel ist es, den Patienten dort zu betreuen, wo er in einer schwierigen Phase seiner Erkrankung am Lebensende leben möchte. Hierzu bieten nicht nur die zahlreichen professionellen spezialisierten Palliative Care-Teams ihre Dienste an, sondern auch die zahlreichen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer aus den ambulanten Hospizdiensten. Hier ist es dringend erforderlich, dass Haupt- und Ehrenamtliche mit gegenseitiger Wertschätzung gemeinsam dazu beitragen, schwerkranke und sterbende Menschen und ihre Angehörigen zu begleiten.


Herr Prof. Nauck wir danken Ihnen.

Vita von Prof. Dr. med. Friedemann Nauck


Prof. Dr.med. Friedemann Nauck, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin

Geb. 1955, verheiratet, 2 erwachsene Kinder, Facharzt für Anaesthesiologie, Spezielle Schmerztherapie, Palliativmedizin, Direktor der Abteilung Palliativmedizin (mit klinische Versorgung - Palliativstation, Ambulantem Palliativdienst mit SAPV-Team, Tagesklinik, Konsiliardienst, - Lehre und Forschung), Stiftungslehrstuhl der Deutschen Krebshilfe an der Universitätsmedizin Göttingen. DGP-Vorstandsmitglied 1996-2000 sowie seit 2008 Vorstandsmitglied der Europäischen Gesellschaft für Palliativmedizin (EAPC) 1995-2003, Chair Scientific Committee des EAPC Kongresses 2009 Wien. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Forschung zum Thema „Das Lebensende gestalten“, Untersuchung zum Stellenwert von Patientenverfügungen (PV) / Paketantrag der Lehrstühle der Universitäten Aachen, Bonn, Köln und Göttingen zur Förderung durch die DFG, sowie zum Thema "Autonomie und Vertrauen in der modernen Medizin: Erkenntnis - Praxis - Norm" in enger Kooperation mit einer geisteswissenschaftlichen Forschergruppe der Universität Göttingen, gefördert von der Volkswagenstiftung.


Geschrieben von Renate Müller De Paoli
Sonntag, 01. Oktober 2011

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